1. Vorrede
Fast drei Jahre lang konnte ich für die in Leer erscheinende Ostfriesenzeitung Buchbesprechungen verfassen. Diese eher zufällig zustande gekommene Tätigkeit, zufällig, weil der 2017 verantwortliche Redakteur nebenan wohnte, endet im November 2019 plötzlich. Es gibt dafür Gründe, die bekanntzugeben der Zeitung selbst obliegen.
Nun ist eine ganze Region ohne jede Literaturseite. Ich hatte zwar schon an der Aufmachung gemerkt, daß die Außenwelt an sich noch weniger Thema in Ostfriesland sein sollte, weil es da ja doch andere Medien gibt und weil sich viele Lesende gar nicht für die ganze Zeitung interessieren, was aus einer jüngst veranstalteten Umfrage hervorging. Ein Ergebnis war wohl auch, daß die Literaturseite kaum gelesen wurde – welch Wunder bei einer Seite, die einmal monatlich an jeweils anderer Stelle erschien und die mir selbst erst nach etlichen Jahren des Abonnements überhaupt aufgefallen war. Obwohl ich an Ostfriesland stets interessiert war, hatte ich die jahrelange Dominanz von Regionalkrimis bei den rezensierten Büchern als mindestens so störend empfunden wie manche Buchhändler, mit denen ich darüber sprach.
Die Rezensionen erscheinen hier in chronologischer Folge fast immer im genauen Wortlaut der Vorlage, die ich der Redaktion geschickt hatte, denn nur der gehört unzweifelhaft mir als dem Urheber. Mein Text wurde mehr oder minder verändert, manchmal gekürzt, manchmal auch – leider – fehlerhaft, jeweils ohne Rücksprache zu halten. Beschwert habe ich mich jedoch darüber nie. So wird gemeinhin gearbeitet, auch bei überregionalen Blättern, in denen ich in den vergangenen Jahrzehnten immer mal wieder Übersetzungen veröffentlicht hatte.
Als Rezensent einer Tageszeitung habe ich insgesamt positive Erfahrungen gemacht, ähnlich den zehn Jahren von 1995 bis 2005, in denen ich für den Evangelischen Buchberater in Göttingen tätig war. (Es handelt sich hier nicht um einen Vergleich zwei ganz unterschiedlich arbeitender Publikationsorgane mit entsprechend divergierenden Zielgruppen, sondern lediglich um die Schilderung meiner Erfahrungen.) Als Rezensent des Buchberaters hatte ich nämlich gelernt, auf engem Raum ein Buch vorzustellen und zu beurteilen, allerdings unter der Bedingung, daß die von der Redaktion ausgesuchten Bücher in der Regel so zu besprechen waren, daß nur ein Bruchteil in die Rubrik „entbehrlich“ gelangte. Das waren meiner Ansicht nach bei gut 1000 Titeln pro Quartal in allen Sparten zusammengenommen immer viel zu wenige. Für diejenigen, die nicht wissen, was der Buchberater tut, sei hinzugefügt, er soll Orientierung geben für die evangelischen Büchereien, die ihrerseits in Größe und Ausrichtung sehr unterschiedlich sind. Wenn ich eine solche in Münster oder Ostfriesland betrat, wußte ich kaum je, wie die Verantwortlichen mit Hilfe des Buchberaters ihre Medien hätten bestellen sollen. Ich fand immer und habe es mehrfach schriftlich kundgetan, daß weniger mehr gewesen wäre.
Für die Ostfriesenzeitung habe ich nur Titel ausgewählt , die ich im eigenen Bücherschrank hätte behalten wollen. Deshalb gibt es auch keine „Ausschußware“ und schon gar keinen „Verriß“. Dafür wären mir die wenigen Zeilen pro Monat doch stets zu kostbar gewesen. Wer die Literaturseiten der vergangenen Jahre noch einmal anschaut, wird feststellen, daß die beteiligten Redakteure und Autoren in ihren Berichten und Rezensionen in der Regel den vorgestellten Personen und Büchern sehr gewogen waren.
An dieser Stelle werde ich also zunächst den Urtext meiner gesammelten Rezensionen aus drei Jahren präsentieren, jeweils ergänzt um einen kurzen Text, der meine Motivation darlegt, genau dieses Buch zu besprechen. Später werde ich dann eine eigene, wohl eher unregelmäßig Literaturkolumne betreiben, eingeschränkt sicherlich dadurch, daß ich den Versuch, alles im Lichte Oscar Wildes zu betrachten, hier nicht werde lassen können. Mit Wilde denke ich, Bücher nicht nach Oberflächenmerkmalen wie Auflage, Titelbild, medialer Präsenz usw. auszuwählen, sondern nach dem nur über Jahre und über Versuch und Irrtum auszubildenden literarischen Geschmack, der nichts mit Konzepten einer Redaktion oder auch zentralen Vorgaben zu tun hat, sondern dem Individuum eigen ist, das dafür auch allein Verantwortung übernimmt. Wilde ist nicht der erste und ohnehin nicht der letzte Schriftsteller, der im literarischen Betrieb seiner Zeit ganz nach oben gelangte, um dann um so tiefer zu fallen. Auch ist er in seiner letzten Phase als gesellschaftlich Ausgestoßener, der nur noch anonym oder unter Pseudonym überhaupt öffentlich wirksam wurde, durchaus bis heute ein Vorbild für jene, die tatsächlich weiter künstlerisch tätig sein wollen, ohne sich der Unbill der Veröffentlichung mit all ihren Verpflichtungen in der Medienwelt auszusetzen, dies aber freiwillig tun.
Jörg W. Rademacher, 29.12.2019