«Portia» ‒ ein Fall von übersehenem Antisemitismus?
Liebe Leserschaft meines Blogs,
beim Blick auf die verwahrten Dateien fällt leicht ins Auge, daß es in den letzten zwölf Monaten ein schwieriges Unterfangen war, regelmäßig einen Eintrag hochzuladen, denn es gab so viele andere Aufgaben, vor allem nach der letzten Sommerpause. Derzeit ist nur eine kleine Verschnaufpause, wenn öffentliches und schulisches Leben darniederliegen und jeden Tag außer an den Weihnachtsfeiertagen und am Neujahrswochenende nur die ein oder andere Korrektur erledigt werden muß.
Ehe ich irgendwo anders tiefer grabe, möge mir erlaubt sein mitzuteilen, was ich heute, am eigentlichen Neujahrstag erlebte, als ich «Portia» für den Hörkalender dieses Jahres aufzeichnete. Es war ein Déjà-vu, das ich schon einmal hatte, als ich die entsprechenden Kapitel von The Picture of Dorian Gray wieder las oder die Hörbücher auf Deutsch und Englisch im Herbst anhörte. Auch hatte mir ein Freund und Leser des Kalenders, der Shakespeare ebenso eifrig studiert, bereits eine Anmerkung geschickt, in der er den Inhalt des Gedichts in Frage stellte.
Als Dichter wie als Romancier ist Wilde so sehr Teil der antisemitischen literarischen Tradition, in der er in England und Irland aufwuchs, daß der Halbsatz «that accurséd Jew» (Z. 12 von «Portia») ihm nicht als Fehlgriff auffiel – ganz wie er, später, jene Stellen nicht revidierte, darin der Theaterdirektor in The Picture of Dorian Gray zum stereotypen Juden wurde, die die Regisseure meiner deutschen und englischen Hörbücher von der Aufnahme gestrichen hatten. Keiner jedoch erklärte, warum sie das taten. Als Herausgeber des Kalenders will ich es jedoch jetzt tun.
Also, fürs Protokoll: mag ich auch den Dichter Wilde nicht umschreiben, vermerke ich hier, daß diese Stelle mir nicht mehr als unschuldige Verschriftlichung einer jahrhundertealten Tradition vorkommt, nur das Individuum Shylock an den Pranger zu stellen, das zufällig Jude ist, sondern ihn als Juden allgemein an den Pranger stellt, als Teil für das Ganze für Volk und Religion, denen er angehört. Auch vermerke ich, daß ich nach dem Vergleich der Stellen aus The Picture of Dorian Gray aus verschiedenen Übersetzungen ins Deutsche nun weiß, was mir während der Produktion des Kalenders noch unbekannt war, daß in der Übersetzung – wie auch hier – solche Stereotypen die Lage noch verschlimmern. Zugleich nehme ich alle Verantwortung auf mich, da ich das Gedicht ausgewählt hatte.
Da dieser Eintrag auf Englisch und auf Deutsch erscheinen wird – was auch für alle anderen Einträge im letzten Jahr gilt und ebenfalls erklärt, warum ich sie nicht vierzehntägig produzieren kann – hat diese Anmerkung für das Protokoll die Chance, in zwei Kulturen zu kreisen. Ich bitte darum, diese Erkenntnis ohne Zögern zu teilen! Leider ist es notwendig, da der Antisemitismus einfach nicht verschwindet, wenn wir unsere Augen davor verschließen! Zugleich sollte das niemand davon abhalten, Wilde zu lesen und wieder zu lesen.
Um zu verhindern, daß dieser Eintrag das Los von «The Remarkable Rocket» erleidet, gehe ich nun aus der Leitung, damit der Inhalt genau dieses Eintrags nicht verloren geht. Ich werde versuchen, andere Dinge in der kommenden Zeit auf ähnliche Weise zu behandeln,
Beste Grüße,
Jörg W. Rademacher
P.S. Der nächste Eintrag mit mehr Details ist bereits in Vorbereitung.