Neunundneunzig Stufen, Jahre

Bald feiert er Geburtstag nahe dem Geburtsort
Rhauderfehn in der Kleinstadt Leer Ostfriesland
Deutschland wo Albrecht Weinberg Fleischer
der mit Schwester Friedel früher in New
York City und auch in Florida lebte am
letzten Dienstag die Schock-Nachricht
erfuhr von drei umgestürzten Grabmalen
auf dem Leeraner Jüdischen Friedhof.

Jetzt sind aus toxischen Ideen toxische Worte
geworden Auslöser antisemitischer Taten
in Leer wo der Bürgermeister sich nach
dem 7. Oktober zu sorgen begann als er
den Polizeiwagen vor der ehemaligen
Jüdischen Schule geparkt sah heute ein
Gedenk- und Lernort zur Shoah wo
Albrecht und viele andere Unterricht hatten

bevor sie emigrierten oder deportiert wurden
mit der Uhr draußen an der Volksbank in der
Mühlenstraße als Erinnerung an Hermann
Gans Uhrmacher dessen Meisterstück sie war
und an seinen Sohn Rabbiner Gans aus New York City
Namenspate der Jugendherberge Leer was ich
meinem Sohn heute Morgen erzählen wollte
noch bevor ich die Schlagzeile im Sonntagsblatt sah

zur Mahnwache am Jüdischen Friedhof
links der Groninger Straße in der Weststadt
ein Wohngebiet mit Eigenheimen wo die Lichter
anflackern wenn jemand im Dunkeln auf der Straße
geht und wo das warme Februarwetter ebenso wie
die Menschenmenge und die feuchte Luft schon
die Stechmücken aus dem Winterschlaf holten gegen
alle die noch da waren sprachen und mehr erfuhren

über toxische Ideen und Worte verbreitet sowohl
durch Mietlinge die Flyer in Briefkästen stecken
als auch durch Abgeordnete der Rechtsextremen
die jüngst in Schortens Friesland zu hören waren
die ihre wahren Absichten nicht mehr verhüllen
die Demokratie und freien Diskurs zu untergraben
sobald sie an der Macht sind noch ihren Willen die
deutsche Gesellschaft von all ihren Feinden zu reinigen

ahnungslos sicher wie ich finde daß es etwas wie
eine Person ohne Brüche in den Lebenslinien nicht gibt
nie gegeben hat daß kurzum die Diversität des Lebens
die Menschheit immer hat überleben lassen und daß
sie dabei sind das Land vor die Hunde gehen zu lassen
indem sie seine demokratischen Werte auf den Kopf stellen
und die Wahrheit der Shoah ebenso leugnen wie die 99
Jahre die der einzige Jude von Leer nun schon lebt;

Albrecht Weinberg erhob heute Abend seine Stimme
anerkannte die Anwesenheit so vieler Menschen
als Zeichen von “of hope for the future” hier Englisch
sprechend jahrzehntelang in New York City seine dort
angenommene Sprache nachdem Hannes Waders Lied
über das Traumland der Menschen allen Anwesenden
die Herzen gewärmt hatte bevor sie stehend und Beifall
klatschend für Albrecht Weinberg sich die Hände wärmten.

Jörg W. Rademacher, 10.02.2024, verfaßt zum Moment geteilter
Solidarität, am Jüdischen Friedhof, Groninger Straße, Leer,
Ostfriesland, Deutschland


Postskriptum in Prosa

Eine siebzehnjährige Schülerin und die Leiterin der ehemaligen Jüdischen Schule Leer entdeckten bei der Besichtigung des Friedhofes am Dienstag, dem 6. Februar 2024, die Zerstörung und alarmierten sowohl den Vorsitzenden der Gesellschaft für Christlich-Jüdischen Zusammenarbeit in Ostfriesland als auch die Zivilgesellschaft in Leer. In den letzten beiden Jahren waren auf Initiative von Albrecht Weinberg Stolpersteine in Leer verlegt worden, so daß viel mehr Menschen von der Verwüstung Kenntnis erhalten hatten, welche Deportationen in der Stadt vor über 85 Jahren versucht hatten. Mit dem Aufstieg einer extrem rechten Partei in den letzten zehn Jahren und besonders nach dem Terroranschlag auf Israel am 7. Oktober 2023 muß festgestellt werden, daß Zahl und Gewaltsamkeit antisemitischer Grenzüberschreitungen und Angriffe in Ostfriesland insgesamt und in Leer im besonderen zugenommen haben. So ist die Tatsache, daß die Menschen in Leer sich dem Anlaß gestellt und dafür gesorgt haben, daß viele an der Nachtwache teilnehmen, ein Zeichen dafür, daß sie nun bereit sind, demokratische Rechte und freien Diskurs durch eine Demonstration der Solidarität in der Öffentlichkeit zu verteidigen.

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