Konzert und Kino

Liebe  Leser meines Blogs,

Konzert- und Kinobesuche sind seltene Gelegenheiten, in Ostfriesland Kunst- und Kultur auf höchstem Niveau wahrzunehmen, deshalb sind es für mich immer auch Anlässe, beim Schreiben vertieft nachzudenken.

Ein Pfeifkonzert der besonderen Art

Wer noch nicht wußte, wie über das Kammerkonzert des Fauré-Quartetts am 19. Januar 2025 im Theater an der Blinke in Leer, Ostfriesland, zu schreiben sei, dem gab die Zugabe zum nur aus Zugaben bestehenden zweiten Teil des Abends den entscheidenden Einfall. Denn nachdem der Cellist Konstantin Heidrich, der den Conférencier gab, zum letzten Mal mit seinem linken Schuh dem Publikum den Einsatz zum Pfeifen der Melodie gegeben hatte, stahlen sich alle vier Musiker samt Blumenbouquets von der Bühne: als sichtbares Zeichen für den endgültigen Abschluß eines gelungenen Konzertabends wie als Anspielung auf das Adagio  im vierten Satz von Joseph Haydns „Abschiedssymphonie“.

Sie spielen im 30. Jahr zusammen: Dirk Mommertz am Klavier, sowie Erika Geldsetzer, Violine, Sascha Frömbling, Viola, und der erwähnte Cellist Konstantin Heidrich. (Abb. 1)

Abbildung 1

Als per Mikro verstärkter Sprecher des Quartetts geleitet er nicht nur das Publikum durch den zweiten Teil, er zeigt auch erst ganz am Ende, wo er den Farbton versteckt, der mit den Schuhen der Geigerin und dem Einstecktuch des Bratschers harmoniert: nämlich als er die Pfeif-Einsätze gibt und beendet. Sonst sind alle vier in schwarz gewandet. Dieses wohl geplante Detail ist nur zu sehen, der Riß der A-Saite am Cello im ersten finnischen Zugabe-Tango auch zu hören, ehe die drei verbliebenen Musiker ein vorübergehendes Ende finden und der Cellist verfrüht erstmals das Wort ergreift. (Abb. 2)

Abbildung 2

Rückblickend ist dieser unfreiwillige Abgang aller vier ein Vorgeschmack auf den geplanten nach dem erklatschten „Encore“. Im Wortsinn „noch einmal“ wird nur der Tango des finnischen Zeitgenossen ein zweites Mal gespielt. Die anderen „Piècen“ der „kleinen Form“ (Heidrich) im zweiten Teil wurden teils eigens für das Quartett komponiert oder arrangiert. Klanglich nicht unbekannt, doch letztlich namentlich nicht zuzuordnen war für mich Debussys „Clair de lune“. Auch die beiden Pop-Songs, deren Titel ich hätte mitschreiben müssen, waren wir mir so unbekannt wie die Bands: ein Beleg mehr für den unentdeckten Reichtum der Popularmusik aus Sicht von klassisch gebildeten und trainierten Hörern. Da helfen auch „Crossover“-Programme wie DLF Kultur und die „Playlists“ in den Kulturradioprogrammen nicht viel, denn die Auswahl des Fauré-Quartetts hatte sich an den Kriterien von harmonischem wie rhythmischem Tiefgang der jeweiligen Popular-Komposition orientiert. Und diese die Qualität messenden Kriterien von Musikpraktikern haben naturgemäß nichts mit den Regeln des Musikmarktes gemein, die nicht ohne Werbung für bestimmte Titel/Musiker den schlichten Zahlen bei Verkäufen und Streaming-Diensten folgend zum wiederholten Abspielen im Radio führen. Rein zufällig hätten die Zuhörer in Leer das ein oder andere bereits einmal gehört haben können.

Nicht zufällig ist der Abschluß mit einem weiteren Fauré-Tango, wie auch im Rückblick erst sich erschließt, wie genau dieser Abend durchgeplant war mit dem vermutlich für alle Anwesenden im Saal unbekannten Quartett-Satz Gustav Mahlers, der trotz intensiven Musizierens aller vier im Klangschatten des großen Klavierparts einen eher reservierten Applaus auslöste.

Beim Quartett des Namensgebers Gabriel Fauré hörte sich das ganz anders an, denn es gab auch Bravo-Rufe. Fauré hatte erst begonnen, Kammermusik zu komponieren, als die in Paris endlich öffentliche Förderung erfuhr. Bis dato hatte allein die Oper im Zentrum des Musiklebens gestanden. Das erklärt sowohl die verhaltene Reaktion des Publikums in Leer auf die im kammermusikalischen Rahmen des Quartett-Satzes von Mahler noch deutlichere Innerlichkeit, die Melancholie seiner Komposition, auch auch die wie nach einer schmissigen Arie ausbrechende Begeisterung im Saal am Ende des Fauré-Quartetts.

Ich gebe es gern zu: in der festen Absicht gekommen, wie zuletzt öfter, auch über das Konzert zu schreiben, nagte bis fast zum letzten Ton der Zweifel, ob das eine so gute Idee sei, da die Einzelheiten: zufällige Ereignisse wie der geplante Programmablauf keinen Ansatzpunkt für eine das Konzert insgesamt in den Blick nehmende Betrachtung geboten hatten.

Als Teil eines zumeist Oscar Wilde dienenden Blogs ist dieser Post auch ein Reflex darauf, wie Schreiben vom Anlaß über das weiße Blatt zur sich am Ende fügenden Niederschrift eines linearen Textes vonstatten geht, der dem inneren Wunsch folgt, Eindrücke zum Ausdruck zu bringen und nicht einem vorgefertigten Konzept folgend in ein von Zeichenzahl und Termindruck geprägtes Raster eingepaßt werden muß. Das heißt nichts anderes als daß der Musikkritiker auf Abruf in Aktion treten mag, aber durch die selbst gestellte Aufgabe nicht an die Erfüllung solcher „Aufträge“ gebunden ist, was das Schreiben nach Lust und Laune wie nach Gelegenheit – etwa Langeweile im Pendelzug anregt. Dabei ist es ihm in der Rolle als Schreiblehrer nur zu bewußt, wie schwer es jedem einzelnen Eleven fallen muß, der eigenen Impulsivität Zügel anzulegen, um die Anforderungen schulischer oder universitärer Schreibaufgaben zu erfüllen. Da diese stets unter Zeitdruck angefertigt werden müssen, kann niemand ohne häuslichen Fließ gepaart mit Eifer im Unterricht Erfolge feiern – vergleichbar den Musikern, die ihr Instrument nicht ohne Übe-Eifer und -fleiß zu beherrschen vermögen.

Der in seiner Autobiographie „Kindheitssplitter“ (München: Piper, 2001 [1997, 2000]; Abb. 3) vom Zweifel am eigenen Können berichtende Geiger Gidon Kremer (*1947) hat entsprechend oft von der Unmöglichkeit in seinem Fall geschrieben, etwa die Musik gegen die Schauspielerei einzutauschen. Insofern gab es für ihn keine Alternative zur „einen Karte Musik“, auf welche die Familie: Opa und Eltern mit der Oma als einziger Ausnahme für ihn gesetzt hatten, bevor er noch wußte, wer er überhaupt war.

Abbildung 3

Wenn in diesem Post schon von einem Konzertbesuch die Rede war, der nach gewissem Übergang in ein von Wilde angeregtes Nachdenken zur Kunst des Schreibens mündet, ist es nach entsprechender Überleitung wohl auch möglich im Ausgang noch über einen oder zwei Kinobesuche nachzudenken, die ersten nach nahezu einem Jahr.

Mit knapp 100 Eleven ging es zum deutsch-französischen Film-Festival „Cinéfête“, um den vom „Tandem franco-allemand“ geförderten Streifen „Langue étrangère“ (Abb. 4) zu schauen. Kino, gefördert von namhaften Einrichtungen der beiden Nachbarländer, in Leipzig und Strasbourg spielend, die Beziehung zwischen zwei Teenagern aus unterschiedlich zusammengesetzten wie dysfunktionalen Familien durchspielend, dürfte keine leicht verdauliche Kost sein.

Abbildung 4

Nach dem Vorspann, der auch musikalisch schon den populären Crossover-Ton anschlägt, überlang wirkt, wird bald deutlich, daß die Leipziger Familienlage von politischer Spaltung der Generationen, die elsässische Familie von der zunächst logisch klingenden Arbeitsverteilung der Dolmetschertätigkeit von Mutter und Vater beim EU-Parlament auf die Standorte Brüssel und Strasbourg geprägt ist. Der Alltag in Leipzig, später in Strasbourg, wird nicht nur als heute immer noch angefochtene Liebesgeschichte der beiden heranwachsenden Frauen aus nächster Nähe – passend immer wieder im Whirlpool gefilmt – gezeigt. Vielmehr ist dieser Alltag eingebettet in die geopolitischen, lokal aufflackernden, europa- wie innerpolitischen Konflikte, die alles mit allem verbinden, was die Schülerin Lena selbst wiederholt sagt: „überfrachtet“, „Fehlgriff“ sagen die einen, Jugendliche reagieren überlaut, fast hysterisch, bis der Dolmetscher-Vater sich als Araber entpuppt. Traum- wie Albtraum-Sequenzen wechseln einander ab. Die Musik und die Konflikte werden sehr laut, aggressiv, ob das Mobbing der französischen virtuell bei ihrer Präsentation aus Leipzig oder live beim Gegenbesuch in Strasbourg stattfindet. Die französische Schülerin versucht alles, um sich für ihr deutsches Gegenüber interessant zu machen. Sie ist mythomanisch veranlagt, wie ihr Vater der deutschen Austauschschülerin am Bahnhof von Strasbourg erklärt, als Lena bereits abreisen will.

Der „Whirlpool“ im Leipziger Garten – vielleicht eine Anspielung auf das berühmte Leipziger Allerlei, das allerdings im Film nicht serviert wird? – bleibt sinnbildlich für die miteinander verbundenen Handlungs- und Konfliktstränge. Gut möglich, daß dieser Film seiner Anlage wegen ins Programm der „Cinéfête“ gedrückt wurde. Die Erwartungen derer, die sich einen „schönen Austausch“ wünschen, wurden allemal enttäuscht. Dazu sind die jetzigen Zeiten auch zu wirr und verquirlt – vor allem wenn man Deutschland und Frankreich mit ihrer wechselseitig so ähnlichen wie verschiedenen „Hölle des Alltags“ gegenüber stellen möchte.

Ganz anders, weit weniger konfliktreich ist der Streifen „Toni, en famille“ (Abb. 5), der wenige Tage später ebenfalls im Forum der VHS Emden mit Kinoqualität von meist jüngeren Eleven angeschaut wurde. Turbulent, wie das Familienleben zu sechst sein kann, mit viel Slapstick-Komödie als Einlagen, ist dieser Film eher dazu angetan, Harmoniebedürftige zufrieden zu stellen. Dabei wird auch hier, im Familienrahmen, die Wirkung von gleichgeschlechtlicher Liebe – passend unter Mädchen wie unter Jungen – gezeigt, wenn auch nicht plakativ demonstriert wie in „Langue étrangère“. Die Familie ist durchaus dysfunktional, denn der Vater – verstorben, wie erst spät deutlich wird – fehlt an allen Ecken und Ende. Namentlich ist er am Schluß gegenwärtig, als die Älteste ihren Namen auf den Abiturlisten zunächst nicht findet, weil sie noch unter dem Namen des Vater firmierte, nicht wie der Bruder unter dem Namen der Mutter. Alle zusammen halten will Toni, die Mutter, ehemals Schlagersternchen in Frankreich, doch kann sie manchmal den Einzelnen nicht mehr aus dem Tohuwabohu des Gesamtlärms heraushören. Nicht zuletzt fehlt ihr für die Zeit nach dem Auszug der Kinder eine eigene Aufgabe. All das paßt zusammen, ist manchmal traurig, manchmal komisch, grotesk, als, wiederum sehr realistisch, wenn auch noch selten gezeigt, die Abiturienten sich auf die an Stellwänden aufgehängten Namenslisten derer stürzen, die bestanden haben. Wohlerzogene 14-jährige finden einen Jungen ihres Alters, der beim Essen wutentbrannt einen Teller zerdeppert, mindestens so lustig wie die erste Szene als die Mutter bei einem Streit über die Sitzplätze im Auto selbst in den Kofferraum sich verfügt – wohl wissend, daß außer ihr noch niemand den Führerschein hat. Doch auch hier zeigt sich der Alltag der Französischen Republik als unbarmherzig bürokratisch sowohl mit der alleinerziehenden Mutter ohne Beruf wie potentiell viele Optionen bietend, als die beiden Ältesten sich für die Universität beziehungsweise eine Tanzakademie in Budapest entscheiden.

Abbildung 5

Die Kunst des Lebens wie die Kunst als Familie zu leben werden hier nicht nur amüsant, sondern mit einigem Tiefgang gezeigt. Und damit sind wir in der Summe bei allen drei Kulturereignissen in der Gegenwart bei den Aspekten Diversität und Hybridität in jeweils verschiedener Ausprägung gelandet. Mag das heutzutage manche verstören, andere sogar aggressiv machen, Tatsache ist und bleibt, im Leben und in der Sprache sind diejenigen glücklicher, die sich und andere so nehmen können wie sie sind. Oscar Wilde ist hier in allen Aspekten gegenwärtig. Als auch Französisch fließend parlierender Autor, der noch dazu die Jahre des Exils von 1897 bis 1900 vor allem im Frankreich der III. Republik verbringt, wenn nicht verlebt, ist er ein Kontrapunkt wie französische Sprache, Kunst und Kultur zum allgegenwärtigen Englisch. Wer hier noch weiterlesen möchte, kann das bald tun in Wiard Ravelings Buch „Englisch, Jetzt Englisch, Nur noch Englisch“, das in der Edition Zugvögel des Elsinor Verlags im März erscheint. (Abb. 6)

Beste Grüße,

Jörg W. Rademacher

Abbildung 6

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