Konzert im Theater an der Blinke am 23.11.2024
Liebe Leser meines Blogs,
erneut ist ein Konzert im Theater an der Blinke in Leer (Ostfriesland) Anlaß eines Blog-Post. Wessen Aufmerksamkeit einmal auf die Heterogenität oder Hybridität vieler Erscheinungen im Leben gelenkt ist, wird stets und immerzu auf neue Momente stoßen, die eben nicht einförmig oder homogen daher kommen. Gerade in diesen Tagen, wo von vielen Seiten der Versuch unternommen wird, komplexe Dinge nur in schwarz-weiß zu sehen, ist es sehr hilfreich, sich bewußt zu machen, wie viel schöner das Leben doch ist, wenn man seine Buntheit und Vielfalt registriert und genießt.
So besuchte ich letzten Samstagnachmittag die Homepage des Vereins junger Kaufleute Leer, um festzustellen, daß mit Thomas Quasthoff der Rezitator des Konzerts absagen mußte. Also wurde ein reiner Kammermusikabend mit dem Amatis Trio aufs Programm gesetzt. Diesem Umstand trägt das Programmheft zwar Rechnung, aber es enthält auch alle vorgesehenen Texte zum Thema „Menschlichkeit im Krieg“. Diese Ungereimtheit ließ sich in der Kürze der Zeit offenbar nicht mehr bereinigen.
Der Cellist, Samuel Shepherd, jedoch nahm sogleich das Mikrofon in die Hand und begann in klangschönem, sehr britischen Englisch den Abend zu moderieren, dabei gänzlich frei sprechend. Eine Übersetzung gab es nicht, sicher hat nicht jede Person im Saal akustisch oder sprachlich alles verstanden. Immerhin gab es wiederholt Reaktionen des Publikums auf witzige Passagen.
Der Kammermusikabend ohne deutsche Texte – bis auf die Ansage der Geigerin Lea Hausmann zur Zugabe Fritz Kreislers – nimmt seinen Lauf mit Ludwig van Beethovens Klaviertrio Es-Dur op. 1, Nr. 1. Nur wer solche Bezeichnungen genau liest oder das Stück schon kennt, hätte gewußt, worauf Shepherd gleich zu Beginn hinweist: Hier hat Beethoven von seinem Gesamtwerk, wie er es sehen wollte, das allererste Opus als solches gekennzeichnet. Und damit nicht genug.
In Bonn geboren und aufgewachsen, macht der junge Beethoven sich noch während der Entstehung dieses Trios auf nach Wien. Erst dort, umgeben von Cafés, der Musik Joseph Haydns wie Wolfgang Amadeus Mozarts, welch ersterer eben etliche Klavier-Trios geschrieben hatte, vollendet Beethoven sein Werk. Der Ton ist klassisch, aber nicht nur. Schon die Folge von vier Sätzen sei aus dem bisherigen Rahmen fallend. Doch anders als der Beethoven, der für Melancholie bekannt sei, könnten wir hier einen heiteren, das Abenteuer suchenden Komponisten hören.
Hybrid ist nicht nur die Situation: hier ein deutschsprachiges Programm, auf der Bühne ein Englisch sprechender Cellist. Auch nutzen die beiden Streicher herkömmliche Notenausgaben, während die Pianistin mit einem Tablet arbeitet. Deshalb steht ihr kein Mensch beim Umblättern bei.
Wer einmal Mozarts „Kegelstatt-Trio“, ebenfalls in Es-Dur, für Klarinette, Viola und Klavier gehört hat, findet vielleicht rascher in die Wiener Stimmung hinein, die Beethoven hier entwirft – ja Entwurf, Skizze sind die passenden Ausdrücke, denn nur selten wird der Klang plakativ, großflächig wie beim späteren Beethoven vor allem, aber nicht nur im sinfonischen Werk.
Bei Mozart ist die Besetzung hybrid, unerwartet, offenbar „zusammengewürfelt“. Bei Beethoven sind es die Klänge, die solistisch manchmal so schmal ertönen, als seien sie wie einzeln dahin getupft, nicht nur beim Pizzicato, dem Zupfen, der Streicher.
Sodann folgt ein Arrangement des Klaviervirtuosen Franz Liszt, der ein Stück Programmusik bietet. Es sei angemerkt, all diese Hinweise sind wie wortwörtliche Reminiszenzen an den mündlichen Vortrag von Samuel Shepherd, nur erfolgen sie jetzt auf Deutsch – hybrid höre ich im Kopf ihn noch Englisch parlieren.
Schon der Titel „Vallée d’Obermann“ kommt mir bekannt vor. Ich mußte selbst vor einigen Monaten den Autor dieses Romans suchen, weil Oscar Wilde, im Jahr 1899, nur noch umher irrend, also auch in der Schweiz nicht heimisch werdend, die Figur des Obermann in einem Brief anspricht. Hier das Text-Blatt für den Oscar-Wilde-Kalender 2025:
An Louis Umfreville Wilkinson (1881–1966), damals an der Radley School, später selbst Verfasser von Romanen und anderen Schriften, der 1953 öffentlich
einräumt, Wilde unter einem Vorwand, den Roman The Picture of Dorian Gray zu dramatisieren, was nie geschah, angeschrieben zu haben.
Complete Letters, S. 1109/1110.
Poststempel, 20. März 1899
Gland, Schweizerland
“[…] An den Ufern ist der See von Kiefern gesäumt, doch ich mag das Schweizerland nicht: es hat nichts als Theologen und Kellner hervorgebracht; Amiel und Obermann sind Typen der Sterilität. Ich schreibe das alles dem Mangel an körperlicher Schönheit der ‘Rasse’ zu; sie sind formlos, farblos: grau in der Textur, und bar der Form. Die schönen ‘Rassen’ sind die großen ‘Rassen’: hier sind sie wie Höhlenmenschen: kein Impuls geboren aus dem Glanz körperlicher Vollkommenheit hat ihnen je innegewohnt; ihr Vieh ist ausdrucksstärker.
Je m’ennuie, je m’ennuie.”
Complete Letters, p. 1133.
Der so gelangweilte Wilde, vergiftet vom ‘Rasse’-Denken, schlägt, immer noch der Ästhet, verbal um sich wie ein Ertrinkender, wohl gemerkt gegenüber einem Schüler: etwa gegen den Schweizer Moralphilosophen Henri- Frédéric Amiel (1821–1881), dessen Tagebuch erst ein Jahrhundert später von dessen tiefer Verzweiflung zeugt (Historisches Lexikon der Schweiz), und den Brief-Roman Obermann (1804) des Frühromantikers Étienne Pivert de Senancour (1770 –1846). Beiden ist der späte Wilde von heute aus ebenso ähnlich wie Charles Baudelaire, der 1867 im gleichen Alter ist wie Wilde 1900, und ebenfalls im Exil, in Brüssel, stirbt.
Anders als Shepherd, der die Stimmen, die in Obermanns Kopf interagieren, auch gestisch inszeniert, den Zuhörenden gute Stimmung vermittelnd, ist der späte Wilde keineswegs mehr amüsiert vom Leben in den Alpen, er der wie Obermann selbst aus Paris dorthin gelangt war.
Wilde Romantik pur bringen die drei Musiker uns nahe. Oscar Wilde war ähnlich endzeitlich gestimmt wie ein Jahrhundert zuvor Obermann oder auch so mancher heutzutage. Es lohnt sich, sowohl den Liszt-Klängen nachzuhängen als auch über Wildes Gedanken nachzusinnen. Der Kalender ist fertig und direkt – nicht im Internet – beim Blogger zu beziehen. Anders als in den Vorjahren wird er nicht komplett im Jahr 2025 auf der Homepage reproduziert werden.
Der Moderator hatte den Namen des Autors von „Obermann“ auch genannt – anders als sein makelloses Englisch war das Französisch mit englischem Akzent nicht geeignet, den Namen auch zu speichern. Erst im Pausengespräch erinnerte ich mich der Brief-Passage von Wilde.
Nach dem Frühwerk Beethovens, so der Moderator, stehe uns im zweiten Teil ein Werk des reifen Mendelssohn-Bartholdy bevor. Ebenfalls viersätzig – also hatte Beethovens früher Wurf Schule gemacht – ist dieses Trio gleichwohl zwar nicht programmatisch wie das Liszt-Arrangement – auch das, nebenbei, hybrid, insofern als ein Klavierstück vorlag, das nun als Trio mit Klavierpart vorgetragen wurde – sondern eher die Erfüllung der Möglichkeiten für diese Besetzung aus Sicht von Mendelssohn-Bartholdy.
Sie seien, sagt der Moderator, alle sehr beschäftigt in diesem Stück, doch die Pianistin sei besonders stark beschäftigt. Zugleich enthalte das Werk einige Stellen, die in ihrer Kargheit ihresgleichen suchten – vielleicht über Mendelssohn-Bartholdys Zeit hinauswiesen, bin ich geneigt zu ergänzen, nachdem ich das Werk – wie alle anderen auch – zum ersten Male gehört hatte. Das Scherzo etwa, der dritte Satz, endet so in Einzeltöne, Einzelakkorde zerlegt wie selten ein musikalischer Satz. Das Publikum ist sehr aufmerksam, atmet erst aus, als die Instrumente, die Hände hingelegt werden.
Während diese Spielsituation vorab vielleicht nur skizziert worden war, weist der Moderator bewußt auf den lutherischen Choral hin, der im Finale aufsteigt wie ein Cantus firmus. Es ist dann keine Überraschung mehr für diejenigen, die Mendelssohn-Bartholdys Chormusik, seine Oratorien kennen. Es wäre spannend gewesen, genau diese Stelle, als die drei Musiker in einem gemeinsamen Klang sich wiederfinden, in einer Kirche zu hören – etwa der Lutherkirche Leer, im 500. Jahr nach Beginn der Reformation in Ostfriesland.
Mendelssohn-Bartholdy, als Jude geboren, noch im Kindesalter mit der gesamten Familie zum Protestantismus lutherischer Prägung konvertiert, mag musikalisch verschiedene, liturgische Einflüsse aufgenommen und kompositorisch verarbeitet haben. Wie Luthers Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ in der „Reformationssymphonie“ klingt auch dieser – ohne Worte, wie es ja auch Mendelssohn-Bartholdys „Lieder ohne Worte“ für Klavier solo gibt – durchaus nach lutherischer Kirchenmusik. Doch mag das bei Menschen, die auch jüdische liturgische Musik kennen, ganz anders wirken.
Jedenfalls ist Mendelssohn-Bartholdys Zugang zum Glauben wie zur Musik ebenfalls hybrid zu nennen – wie auch die Besetzung des Trios. die Geigerin ist Deutsche, die Pianistin Niederländerin, der Cellist Brite.
Passend zur enthusiastischen Reaktion des Publikums auf das abschließende Trio spielen die drei ein Stück von Fritz Kreisler, dem einzigen Komponisten des Abends, der auch im ursprünglich vorgesehenen Programm aufgetaucht wäre. Hier wird deutlich, auch Geigerin und Cellist arbeiten mit Tablet, wenn es die Situation erfordert.
Ein in Moderation wie Ausführung gleichermaßen beschwingter Konzertabend ist zu Ende. Wer infolge der Absage des ursprünglichen Programms zu Hause geblieben sein sollte, hat wirklich etwas verpaßt, zumal der Abend „Die Menschlichkeit im Krieg“ im nächsten Jahr nachgeholt werden soll.
Zum Schluß noch ein letzter Hinweis auf das Phänomen der Hybridität, dieses Mal nicht in Bezug auf Veranstaltungen mit Musik und Text, sondern bezogen auf den Gebrauch der Sprache(n). Im Frühjahr 2025 erscheint im Rahmen des erstens Programms der „Edition Zugvögel“, ein Imprint des Elsinor Verlags Coesfeld folgendes Sachbuch: Versuch und Irrtum: Trial and error. Essays zur hybridsprachlichen Kommunikation von Wiard Raveling.