Konzert im Theater an der Blinke am 14.09.2024

Liebe Leser meines Blogs,

nach Monaten der Abwesenheit wenn nicht Inaktivität des Betreibers der Webseite wieder einen Blog zu lesen zu bekommen, noch dazu auf Deutsch, das kann nur heißen, der Verfasser war mal wieder in einem Konzert im Theater an der Blinke in Leer und will seine Eindrücke schildern, solange sie noch frisch sind und nicht überlagert von weiteren Ereignissen.

Das ist noch nicht alles, denn am selben Abend findet in London nahezu zeitgleich die Last Night of the Proms statt, live übertragen von Fernsehen und Rundfunk auch in Norddeutschland. Auf der Autofahrt zurück höre ich im Pausengespräch über die architektonischen Entwürfe Gottfried Sempers für eine nach der Exhibition im Crystal Palace, der ersten Weltausstellung, geplante Halle, die jedoch nach dem Tod von Prince Albert, dem Ehemann von Queen Victoria, zuerst zu den Akten gelegt wurden. Erst 1871, jedoch noch vor der Oper in Dresden, die heute Semper-Oper, heißt, wurde die Royal Albert Hall in Kensington eröffnet.

Bei der Ausstellung im Crystal Palace auf den Gründen des Hyde Park war Oscar Wilde noch gar nicht geboren. Später wurde er Zeuge der Weltausstellungen in Paris 1889 und 1900, wo er angeblich, vermutlich ist das aber ein Fake, einmal stimmlich aufgenommen wurde. Bevor ich jedoch vom Parallelereignis in London erfahre, hatte ich zwei sehr angenehme und musikalisch sowohl hochklassige als auch unterhaltsame Stunden im Theater an der Blinke in Leer erlebt. Dort trat zur Eröffnung der Saison des Vereins junger Kaufleute ein Kammerensemble auf, das drei Werke in jeweils unterschiedlicher Besetzung vortrug. Als solche namenlos, ist diese Gruppierung keinesfalls ein Ensemble namenloser Musiker und Musikerinnen aus vier Nationen: Deutschland, Frankreich, Rumänien, Südkorea.

Alle Mitwirkenden arbeiten aktiv an ihrer jeweiligen internationalen Karriere in Kammermusik und als Solisten im Symphonieorchester oder auf eigene Rechnung beziehungsweise an Hochschulen. Die Intensität der vorangegangenen Proben ist ihnen vom ersten bis zum letzten Ton anzumerken. Doch bevor Carl Nielsens „Serenata in vano“, zu deutsch: vergebliches Ständchen, erklingt, ergreift der Klarinettist Sebastian Manz das Wort. Nicht nur füllt seine Stimme mühelos den Raum, auch vermag er sogleich eine positive Stimmung im Saal zu erzeugen – was auch am Tag darauf so manche Hörer in der Leeraner Kulturwerkstatt bekunden.

Auf dem Balkon, wo im Vergleich zum Saal insgesamt noch die meisten Plätze frei bleiben, etwa 85 % sind im Abonnement vergeben, ist ja die beste Akustik im Theater an der Blinke. Wenn die zitierte Stimmung dort oben ankommt, obwohl der Rest der Zuhörer von dort nicht zu sehen ist, dann hat der sprechende Musiker schon vorab viel erreicht. Es war wichtig um die Kürze der beiden ersten Stücke zu wissen, denn die am Abend gespielten Werke erfordern eine sonst eher seltene Besetzung mit drei Holzbläsern und Kontrabaß neben dem Streichtrio aus Violine, Viola und Violoncello. Doch wenn Ludwig van Beethovens „Septett“ auf dem Programm steht, dann müssen andere Werke her, bei denen die ungewöhnliche Kombination von drei Blas- und vier Streichinstrumenten – im Grunde ein Kammerorchester – noch weitere angemessene Beschäftigung erfährt.

Eine außergewöhnliche, weil bis auf die Klarinette sehr tief angesiedelte Besetzung hat der Däne Carl Nielsen für seine „Serenata in vano“ gewählt, nicht direkt Programm-Musik, doch ein dreisätziges Stück mit einer Geschichte, die eigentlich eine Episode am Abend ist, gesetzt in Musik, laut Programmheft vielleicht auch eine kompositorische Reaktion Nielsens auf eine Intrige unter Musikern in Kopenhagen. Personalpolitik ist immer besonders sensibel, und wenn Nielsen deshalb 1914 seinen Dirigentenposten aufgab, war vielleicht dieses heitere Stück eine bessere, weil kreative Medizin als sich weiter zu ärgern. Wohl all denen, die über die Künste oder die Musik sich den Alltagsärger vom Leibe halten können!

Links sitzen die Bläser, rechts sitzen und stehen Cellist und Bassist. Die Musik ahmt die Stimmungen und Bewegungen der fünf Herren nach, die, in Leer auch von Herren gespielt, einer Dame erfolglos den Hof machen: jeweils ohne Reaktion. Wäre es anders gewesen, hätte Nielsen noch ein weiteres Instrument besetzen müssen. Am Ende marschieren sie ihres Weges – viel zu schnell ist das Stück vorbei. Es würde sich lohnen, es mitsamt aller Kenntnisse zu Entstehung und Aufführung noch einmal anzuhören. Zumindest Sebastian Manz hat die Klarinettenkonzerte von Nielsen auf CD eingespielt.

Eines wäre noch nachzutragen, denn noch etwas erschien zu Beginn sehr ungewöhnlich. Bevor es losging, brachte ein Helfer auf einem Notenpult liegend das Horn herein. Kontrabassisten schleppen nicht gern ihr Instrument auf die Bühne. Doch Dominik Wagner trug seinen Baß mehrfach hin und her. Jedenfalls war ich überrascht, den Hornisten dann mit den anderen auftreten zu sehen, um dann rasch das Photo im Programmheft genau zu betrachten. Andere erzählten mir in der Pause, sie hätten Felix Klieser schon vorher gekannt. Die Beschreibung seines Horns „Alex“ im Biogramm führte auch mich auf die richtige Fährte.

Wer irische Kunst und Literatur kennt, denkt bei einem Hornisten, der die Ventile mit dem linken Fuß bedient, gleich an Christy Brown und sein Buch My left foot (1954). Der Künstler und Autor wird im Film von 1989 von Daniel Day Lewis gespielt. Buch und Film über Christy Brown (1932-1981) sind sehr empfehlenswert. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob Brown auch Oscar Wilde erwähnt. Aber beide Künstler sind Vorbilder für eine inklusive, diverse Gesellschaft, in der nicht nur die Kinder, sondern auch alle anderen kreativ sich betätigen können sollen – wie am 15. September 2024 in der Kulturwerkstatt Leer, Königstraße 33, im Gebäude der ehemaligen Wilhelmine-Siefkes-Schule zu sehen war. Insoweit ist es schon sinnvoll, einen Blog-Post über ein Konzert mit klassischer Musik sowie über den Tag der offenen Tür einer Kulturwerkstatt im Rahmen einer Oscar-Wilde-Webseite zu veröffentlichen. Später durchblättere ich mein Exemplar von Browns Buch noch einmal und finde nur einen markierten Hinweis auf Victor Hugos Roman Les Misérables. Die Elenden, denn anders als Wilde wuchs Brown in Dublin im 20. Jahrhundert unter prekären Umständen auf.

Zurück zu Felix Klieser: Schon in der Konzertpause erfahre ich von seiner Autobiographie, die bereits 2014 erschienen ist. Wie Brown stellt er früh seinen Lebensweg dar. Heute kann er stets aktualisierte Impressionen in den sozialen Medien teilen.

Das zweite Stück, ein Streichtrio von Jean Françaix (1912-1997), das er wie viele Werke im Auftrag verfertigte, ist allein von den Brüdern Jean, Pierre und Etienne Pasquier über „tausendmal“ zu Gehör gebracht worden. Um zu verstehen, was der Klarinettist im Konzert über das Stück sagte, nämlich es sei sozusagen sinnbildlich geworden für den Widerstreit zwischen seinem Komponisten und dem jüngeren Avantgardisten der französischen Musik Pierre Boulez (1925-2016), recherchiere ich ein wenig im Internet und finde eine Webseite, die sowohl die lange Wirksamkeit dieses brüderlichen Trios verzeichnet als auch Kurzviten seiner Mitglieder anbietet. Zunächst zum Trio im französischen Original:

« Avec ses frères Jean [Violine; 1903-1992] et Étienne [Violoncello; 1905-1997], Pierre Pasquier [Viola; 1902-1986] fonde en 1927 le trio Pasquier, qui va être actif pendant presque 50 ans, jusqu’en 1974. Le trio Pasquier a occupé une place essentielle dans la vie musicale française, en se consacrant surtout à la défense de la musique de leur pays. Parmi ses premières auditions, le Trio de Jean Françaix (1934), celui de Jean Rivier (1934), le Deuxième Trio de Martinu (1935), la Suite pour trio à cordes de Jolivet (1938), Hasards de Florent Schmitt (1943), le Trio Op. 32 No 2 de Martinon (1944), celui de Milhaud (1947), celui de Florent Schmitt (1948). Gabriel Pierné composa pour les frères Pasquier son opus 90 sur les noms de Jean-Pierre-Etienne Pasquier. » (http://www.rene-gagnaux.ch/pasquier_freres/index.html [Zugriff: 17.09.2024]

Kurz resümiert ist der Bratscher Pierre Pasquier als Ältester der Anführer. Das in Leer aufgeführte Trio ist das erste in einer ganzen Reihe von Werken, mit denen die Gebrüder Pasquier die „Musik ihres Landes“ verteidigten. Darunter sind auch Werke, die im Zweiten Weltkrieg entstanden. Boulez hat seine Karriere erst danach begonnen.

Während des Krieges war Etienne Pasquier auch Soldat: « Détenu avec Olivier Messiaen (pianiste et compositeur), Jean le Boulaire (violoniste) et Henri Akoka (clarinettiste) au Stalag VIII-A, à Görlitz depuis le 20 juin 1940, il y crée avec eux le 15 janvier 1941 le Quatuor pour la fin du temps. » In Deutschland Kriegsgefangener gemeinsam mit dem Avantgarde-Komponisten Olivier Messiaen (1908-1992), seinem fast schon Altersgenossen, spielt Etienne Pasquier mit anderen dessen dort komponiertes Quartett Pour la fin du temps – zum Ende der Zeiten ‒, das ich am 8. Mai 1995 im Rathaus-Festsaal der Stadt Münster hörte, aufgeführt vom Tonkünstlerverband, der den Saal Monate zuvor gebucht hatte und deshalb Teil einer Veranstaltung wurde, die die Stadt Münster zu 50 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg mehr oder minder improvisierte und die inklusive aller Reden über drei Stunden dauerte. Allein Messiaens Quartett hat acht Sätze und dauert gut 50 Minuten. Seine Uraufführung im Winter 1941 im STALAG VIIIA bei Görlitz war für die Häftlinge sicher eine kleine Atempause im „Ende der Zeiten“, das sie selbst gerade erlebten.

Liest man nun diese historischen und biographischen Informationen zusammen mit dem Programmheft zum Konzert und den Anmerkungen des Klarinettisten, wird deutlich: Pierre Boulez neidete dem ein Dutzend Jahre älteren Jean Françaix seine Verbundenheit mit einer ganzen Clique einflußreicher Musiker und Komponisten, die nicht nur klassizistisch unterwegs waren wie Françaix, sondern auch ganz andere Wege beschritten, gemeinsam aber Boulez’ eigener Konzeption zumindest in Frankreich im Weg standen. Über den in Frankreich ausgebliebenen Erfolg wird ihn vermutlich der ganze internationale Ruhm kaum hinweggetröstet haben. ‒ Die in der Konzertpause und am nächsten Tag bei der Leeraner Kulturwerkstatt eingesammelte Stimmen aus dem Publikum zu Françaix’ Trio sind weder repräsentativ noch der Mehrheit nach positiv, doch eine Dame bekennt, normalerweise möge sie französische Musik nicht so sehr. Dieses Stück jedoch habe ihr sehr gut gefallen – es sei so künstlerisch angehaucht, dergleichen liege den Franzosen, was ja auch die Olympischen Spiele in Paris gezeigt hätten. Sportveranstaltungen habe sie noch nie in solchem Ambiente, bei solcher Atmosphäre erlebt.

Keine Frage, das dritte Stück ist jenes, worauf dieser Abend zuläuft, das sowohl die Musiker als auch die Zuhörer gleichermaßen wichtig finden: Ludwig van Beethovens Septett Es-Dur Opus 20, also ein Frühwerk, im Verzeichnis direkt vor der 1. Symphonie Opus 21. Darauf spielt der Klarinettist an, wenn er Beethoven zitiert, der gewiß den Erfolg seines Septetts genossen haben wird, jedoch wie jeder Künstler, der weiterhin Erfolg haben will, das gerade abgeschlossene Werk für wichtiger hält als eines, das schon länger aufgeführt wird. Für Kontrabassisten ist Beethoven stets interessant, wer die Symphonien kennt, weiß um einige Solopartien im Sinne der ursprünglichen Baßtonalität. Solche Stellen gibt es im Septett ebenfalls. Dominik Wagner, hier im Zentrum zwischen den hohen Streichern links und den Bläsern rechts stehend, spielt diese genuinen Baßpassagen mit der gleichen Verve, die er beim Nielsen an den Tag legt, als er seinem Instrument auch höhere Töne entlocken darf. Ja, ohne den Baß, so Sebastian Manz, klänge das Septett – als Sextett dann – doch etwas leer. Dieses Mal ist der Wortwitz wohl nicht beabsichtigt. Der volle Klang ist neben dem Witz, der in den Tanzsätzen immer wieder hörbar wird, das Element, das diesen Abend der Last Night of the Proms am nächsten rückt. Denn Beethovens Werk unterhält auch – nicht nur das Publikum, sondern auch die Musiker(innen), die nach lang anhaltendem, begeisterten, rhythmischen Beifall den Schluß noch einmal bieten – dieses Mal zum eigenen Vergnügen unter Beachtung der von Beethoven vorgegebenen Tempi. Das gelingt so gut, daß sich alle sieben abschließend lachend vom Publikum verabschieden. Das Beethoven-Septett haben sie vor kurzem auf CD aufgenommen und spielen es demnächst öfters, doch auf eine Wiedergabe im Wohnzimmer müssen auch Leeraner Hörer noch gut ein halbes Jahr warten, wie Sebastian Manz bei der Autogrammstunde im Foyer verriet.

Ein weiteres Mal hat es sich sehr gelohnt, nicht nur das Konzert im Theater an der Blinke zu hören, sondern auch den Impressionen nachzusinnen und weitere Erkenntnisse über die Musikstücke und ihre Komponisten zusammenzustellen.

Vom späten Vormittag bis in den Nachmittag des 15. September bin ich dann bei der Kulturwerkstatt in Leer, wo Menschen allen Alters verschiedenste Künste, auch Musik und Tanz, vor allem aber bildende Künste ausprobieren und ausstellen, später mit nach Hause nehmen und dabei Gespräche führen oder den Saxofon-Ensembles von und mit Uwe Heger lauschen können.

Das Modalverb „können“ am Schluß ist hier wichtig, denn anders als beim klassischen Kammerkonzert, wo es genau ein einziges Programmangebot für den Abend gibt, ist ein Tag der offenen Tür ein Markt der Möglichkeiten für alle Sinne – vieles geschieht gleichzeitig, es fühlen sich alle Generationen angesprochen, divers sind auch die Nationalitäten. Dialoge sind vielfältig möglich und finden auch statt; diejenigen, die Musik mögen, sprechen auch über den Abend zuvor. Es werden neue Bekanntschaften geschlossen – teils über die auch hier verbreitete Brückensprache Englisch diejenigen miteinander verknüpft, die ihre Landsleute noch nicht kannten – das Interesse an Musik führt beim gemeinsamen Essen zu einem Dreiergespräch, bei dem durch ein Bonmot eines vor kurzem verstorbenen Musikers, den alle drei gut gekannt hatten, dieser für den Augenblick des Lachens wieder unter ihnen weilt.

Auch dieser zutiefst berührende Moment war Anlaß, diesen Blog nicht nur zu schreiben, sondern auch um den Besuch bei der Kulturwerkstatt zu erweitern. In einer gespaltenen Gesellschaft ist es ungeheuer wichtig, das verbindende Element zwischen den Menschen direkt zu stärken. Das wird mit der zeitweiligen „Invasion“ des Gebäudes durch komplett in T-Shirts eines Discounters gekleidete Teilnehmende am City-Lauf Leer noch einmal unterstrichen, denn die Kulturwerkstatt war bunt, individuell, ja individualistisch, während durch das Sponsoren-Geschenk unvermittelt eine Masse blau-weiß-rot Uniformierter auf der Bleiche sichtbar wurde. Schaute man in die Gesichter, waren das auch alles Individuen, doch anders als so manches Kind hatten sie nicht gewagt, zu ihrer Individualität zu stehen und in größerer Zahl das Trikot abzulehnen oder zumindest nicht direkt nach dem Lauf anzuziehen.

Oscar Wilde war kein Mannschaftssportler, also auch niemand, der ein Trikot deshalb angezogen hätte, weil es ihm kostenfrei angeboten worden wäre. Allenfalls hat er gejagt, gefischt und ab und ab mit der Faust sich den Weg in Oxford die Treppe herunter frei gekämpft. Doch hätte ihm die Mischung der verschiedenen Künste ebenso gefallen wie die Konversationen. Der neue Oscar-Wilde-Kalender 2025. Eine Laune der Natur ist bereits fertig gestellt und kann bestellt werden. Wie immer ist er durchgängig farbig mit Collagen von Ulrich Hoepfner versehen und auch zweisprachig angelegt: Oscar Wilde Calendar 2025. A Sport of Nature.

Ein Blog ist trotz aller Versuche stets ein Monolog, also wäre es gut, es gäbe Reaktionen. Zuletzt mußte die Kommentarfunktion wegen einer unerträglichen Häufung von Reaktionen auf die Zahl „neunundneunzig“ jedoch gestoppt werden, deshalb sollten solche Reaktionen eher direkt an die Redaktion geschickt werden, die über das Impressum aufzufinden ist.

Es bedankt sich fürs Lesen und alles Gute wünscht,

Jörg W. Rademacher

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