Edward Elgar Konzert am 04.11.2023 in Leer

Liebe Leserinnen und Leser meines Blogs,

unverhofft kommt oft. Nach über zehn Jahren schreibe ich mal wieder über ein Konzert, das ich im Theater an der Blinke in Leer, Ostfriesland, gehört habe. Das kam so: Ohne inhaltliche Vorbereitung, direkt aus dem Wochenende kommend, nehme ich das inzwischen kostenlos angebotene Abendprogramm entgegen und stelle fest, es ist wie vor fünf Wochen beim Amsterdam Baroque Orchestra mit Dirigent und Solist Ton Koopman auch heute ein Abend mit Werken eines einzigen Komponisten. Am 7. Oktober waren es drei Pariser Symphonien und ein Orgelkonzert von Joseph Haydn, heute sind es kammermusikalische Werke des Briten Edward Elgar (1857-1934): eine Sonate für Violine und Klavier, je Streichquartett und ein Klavierquintett.

Als ich beginne, im Programm zu lesen, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Die Erinnerungen kommen rasend schnell. Anders als in einem knapp bemessenen Presseartikel kann ich solche Gedanken in einem Blog-Post voranschicken. (Ein Tipp: Wer gleich zum Konzert selbst etwas lesen möchte, überspringe bitte die nächsten drei Absätze.)

Vor fast genau vierzig Jahren hörte ich in der Caird Hall im schottischen Dundee erstmals Werke von Edward Elgar, sein Cellokonzert mit dem Amerikaner Lynn Harrel (1944-2020) sowie die 2. Symphonie. Es spielte das Scottish National Orchestra (SNO), das exakt fünfzig Jahre zuvor gegründet worden war, im fünfzigsten Jahr nach dem Tod des Komponisten.

Damals Student an der University of Dundee, hatte ich gerade einen Münchner Landschaftsarchitekten und Komponisten kennengelernt, der mir von der Konzertreihe des SNO erzählte. Wir verabredeten uns für den Abend und waren beide sehr erstaunt, welch riesiger Saal mitten in Dundee etwas abseits der Hauptstraße stand. Dem Volksmund zufolge wurden Gebäude und Saal in den Hochzeiten des Kalten Krieges des öfteren für Verfilmungen genutzt, weil die Architektur dem des Moskauer Kreml auffallend ähnelte.

Zwar waren die Zuhörer von den Darbietungen begeistert, doch füllten wir den Saal nicht einmal zur Hälfte. Fast genau vierzig Jahre später nun findet dieses Konzert in Leer mit drei Stücken statt, die laut Programmheft 1919 in der Londoner Wigmore Hall ebenfalls gemeinsam aufgeführt wurden – allerdings nicht um dann den Siegeszug durch die Konzertsäle der Welt anzutreten.

Wie einmalig dieser Konzertabend in Leer ist, wird spätestens dann deutlich, als zunächst der Cellist John Myerscough seine Klavierbank beiseite rückt, an den Bühnenrand tritt und “the people of Leer” freundlich begrüßt, ihnen für ihr zahlreiches Erscheinen dankt, sodann erläutert, welch seltenes Glück sie als Musiker alle empfinden, genau dieses Programm in Leer vortragen zu dürfen, da vor allem das Streichquartett nur alle Jubeljahre mal in Konzerten aufgeführt werde. Dabei sei dessen zweiter Satz der Lieblingssatz von Elgars Frau aus all seinen Werken gewesen. Sie habe darum gebeten, das Piacevole, poco Andante bei ihrer Beerdigung aufzuführen. Die Fakten finden sich auch im Programmheft, doch die persönliche Mitteilung, noch dazu auf Englisch, eröffnet dem Publikum einen Weg in Köpfe und Herzen der ausführenden Musiker.

In dem Moment ist mir selbst auch bewußt geworden, daß sich heute ein Kreis schließt, geöffnet vor vierzig Jahren in Dundee, als ich ein symphonischen Elgar-Programm hörte. Ja, heute kommt mit drei kammermusikalischen Werken die andere Seite Elgars, nunmehr im ostfriesischen Leer, zur Aufführung.

In Schottland merkte ich damals rasch, auch beim Hören des Klassiksenders BBC 3, daß die Programme viel mehr Komponisten aus diversen Ländern und Zeiten und ganz andere Werke enthielten als die Programme westdeutscher Sender beziehungsweise Konzertveranstalter.

In Leer wird das Programm seit fünfzehn Jahren von einem Klavierbaumeister gestaltet. Sein Vorgänger, der diese Aufgabe über Jahrzehnte wahrnahm, war Altphilologe und studierter Sänger gewesen. Zwischen ihnen lag eine Generation.

Während ich dem Dialog zwischen Violine und Klavier folgte, mich allmählich in die Klänge Elgars versenkte, was heutzutage nicht einfach ist, weil die Umweltmusik – ob nun auf Klassikwellen oder im Popularbereich – meist nur noch vier bis fünf Minuten lange Werke oder Sätze zuläßt, ehe die “Playlist” umspringt zum nächsten Klanghappen – gewann der Gedanke, den heutigen Abend im Blog schriftlich festzuhalten, immer mehr an Kraft. Das ist um so wichtiger, als ein Konzertsaal heute vielen Funktionen genügen muß und nur selten der Raum eine eigene Atmosphäre ausstrahlt – wie etwa wenn das Konzert in einem historischen Gebäude, einem Schloßsaal, etwa der Münchner Residenz oder auch einer alten Kirche stattfindet. Dort hilft der Raum, sich der Bedeutung der Musik gewahr zu werden, während moderne Säle viel nüchterner sind und den Musizierenden abverlangen, die Funken zu schlagen, die aufs Publikum überspringen sollen.

Dazu tragen Charlotte Spruit, die heute und auf der aktuellen Konzertreise, den Geiger Alex Redington vertritt, und Julius Drake am Flügel jeweils bei durch ihr einfühlsames Spiel des – wie sich zeigt – doch am wenigsten leicht zugänglichen Stückes. Spröde, schroff sind vielleicht die Akkorde, doch die beiden musizieren so, als könnten sie diese Unnahbarkeit, vielleicht auch Reserviertheit mühelos überwinden.

Es sei angemerkt, mit Edward Elgar beginnt die englische Musikgeschichte wieder neu – nach mehreren Jahrhunderten Pause, in der es vor allem große eingewanderte Musiker waren wie Händel und später Mendelssohn, die mit ihren zum Teil auch auf den britischen Inseln komponierten Werken Geschichte schrieben. Folglich besteht sowohl 1983/1984 als auch nun vierzig Jahre darauf eine besondere Gelegenheit, Elgars Werke überall bekannter zu machen. Ich kann mich nicht entsinnen, in Leer oder auch an anderen deutschen Orten je ein kammermusikalisches Werk von Elgar gehört zu haben. Dem Programmgestalter in Leer gebührt also ein Sonderlob für den Mut, auch heute noch, überdies in einer ostfriesischen Kleinstadt, das Publikum weiterbilden zu wollen. Bravorufe am Ende und eine fast schon choreographiert zu nennende, dreimalige Verbeugungsszene nach dem Klavierquintett – denn eine Zugabe durfte es heute nicht geben – geben ihm Recht.

Da dies ja ein Oscar-Wilde-Blog ist, darf mindestens ein Bezug nicht fehlen. Tatsächlich sind es mehrere. Elgar und Wilde sind Zeitgenossen. Elgar war nur drei Jahre jünger, lebte jedoch noch über drei Jahrzehnte im 20. Jahrhundert. Als Katholik war er in anderer Hinsicht in England ein Außenseiter als Wilde, der als Dubliner in Oxford erst einmal den irischen Akzent ablegen mußte, um in der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Da Elgars Erfolge erst Ende des 19. Jahrhundert, genauer 1899 mit dem Orchesterstück der Enigma Variations, begannen, als Wilde bereits verfemt war und im Exil lebte, ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie einander kannten, äußerst gering. Allenfalls im Theater hätten sie einander treffen können, da es für Wildes Komödien immer auch Bühnenmusik gab.

Noch während des Konzerts jedoch fiel mir ein weiterer Bezug ein, der jedoch mehr mit dem Sinn und Zweck von solchen Konzertreihen zu tun hat. In Wildes Essay The Soul of Man Under Socialism gibt es einen Passus über den Starschauspieler, Regisseur und Theaterbesitzer Henry Irving (1838-1905). Hier beziehe ich das Zitat auf den Programmgestalter in Leer: “wäre es sein einziges Ziel [...], der Öffentlichkeit zu geben, was sie wollte, die gewöhnlichsten [Musikstücke] auf gewöhnlichste Weise [spielen zu lassen, wären bei sehr guten Abonnentenzahlen jedes Mal auch alle  Plätze besetzt]. Doch das war nicht sein Ziel. Vielmehr suchte er, seine eigene [Vorstellung eines idealen Programms mit entsprechenden Künstlern] zu verwirklichen, und zwar unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten Kunstformen. Zuerst sprach er nur die wenigen an: Nun hat er die vielen erzogen. Er hat in der Öffentlichkeit sowohl Geschmack als auch Temperament geschaffen. [...] Ich frage mich indessen oft, ob die Öffentlichkeit versteht, daß dieser Erfolg gänzlich der Tatsache geschuldet ist, daß er nicht ihren Standard akzeptierte, sondern den eigenen verwirklichte.” Deshalb ist das Leeraner Publikum, sind “the people of Leer” imstande, in den Dialog mit Edward Elgar zu treten, sich von den Streichern im Quartett vor der Pause und von Klavier und Streichquartett nach der Pause mit- und hinreißen zu lassen. Engagement pur, ein höchst aktiver Cellist, der gleichwohl weiß, wann die erste Geige ihre Rolle spielen muß, Viola und 2. Geige zeigen Soli, die ob nun rhythmisch betont oder elegisch melancholisch zu spielen sind, deutlich machen, wie gut alle Beteiligten an dieser Reise, vom Cellisten auch “journey into the world of Elgar” genannt, aufeinander abgestimmt und eingestimmt sind.

Möge der Verein junger Kaufleute in Leer, gegründet 1876, noch viele Jahre an der Bildung von Geschmack und Temperament des Publikum arbeiten. Ein öffentliches Echo haben diese Konzerte auf jeden Fall mehr als verdient. Denn schaut man im Internet nach, wo die Musiker vorher und danach auftreten, ist Leer oft in einer Reihe mit Amsterdam und Hamburg oder umgekehrt. Dabei verkehrt die Wunderline noch lange nicht.

Wenn ich künftig ein Konzert besuche, werde ich wie schon einmal von 2010 bis 2012, als etwa auch viermal in der Lutherkirche Leer ein ganz anderes Forum bespielt wurde mit anderen Möglichkeiten, einen Blog zur Musikkritik umwandeln. Bitte sagen Sie es weiter. Vielleicht gibt es dann eines Tages ja auch eine Person, die das früher ebenfalls dazu gehörige Photo von der Aufführung beisteuert.

Vielen Dank fürs Lesen,

beste Grüße,

Jörg W. Rademacher

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