Blog Post März 2025
Liebe Leserinnen und Leser meines Blogs,
der Februar ist verstrichen, der kalendarische Frühling eingetreten, doch die Launen der Natur sind das Geringste der Nöte, die uns derzeit beschäftigen. Noch ist nicht Aschermittwoch. Doch wenn dieser Blog online geht, wird auch der letzte Narrentanz vergangen, der letzte Tusch verebbt sein. Nur noch die alemannische Fastnacht im Südwesten und in der Schweiz stehen dann bevor. Zeitgleich gehen die Nachwirkungen des Mummenschanz von Washington D.C. weiter, wo der amerikanische Präsident als 47. Mieter des Weißen Hauses und sein Kollege aus Kiew sich am letzten Februartag einen verbalen Schlagabtausch vor der Weltöffentlichkeit geliefert hatten.
Dergleichen Scharmützel treiben weder den Winter aus, noch werden die Wirren – auf Französisch in la guerre, auf Italienisch in la guerra germanisch noch erkennbar – dieses schier endlosen Krieges so rasch enden.
Und in Deutschland war bis zum 22. Februar Wahlkampf, wild und wirr, unfair und verbal überbordend wie noch nie in der Bundesrepublik. Er hat viel mehr Wählende mobilisiert als zuletzt, über 80 Prozent, auch dort, wo besonders viele Nichtwähler schon lange im Niemandsland der Demokratie, nicht einmal in deren Vorhöfen, verharrt hatten, im Osten der Republik. Doch es sind nicht die Auseinandersetzungen auf der Straße oder in den Sälen, die in Erinnerung bleiben, sondern vor allem die vielen verschiedenen medialen Formate, bei denen allerdings die Setzung der Themen zumeist medial geprägt oder über Soziale Medien ebenfalls medial vorstrukturiert war.
Was fehlte, waren eindeutig differenzierte, eher leise Gespräche, in denen die Stimme der Vernunft zu hören gewesen wäre, wie etwa im Hamburger Wahlkampf, der erst eine Woche später endete und eine andere, die parlamentarische Auseinandersetzung der nächsten fünf Jahre nicht ganz so polarisierende Besetzung der Bürgerschaft hervorbrachte und nicht zuletzt zur Fortsetzung der schon zehn Jahre bestehenden Koalition führte.
Dagegen steht der Bundestag in Berlin, nun wie geplant mit genau 630 Abgeordneten besetzt. Er läßt wegen der von BSW knapp und von der FDP klar gerissenen Fünf-Prozent-Hürde neben den sonstigen Parteien glatt 13 Prozent der zur Wahl gegangenen und ihre gültige Stimme abgegeben habende Bürger ohne Vertretung. Dabei sind ein Fünftel rechtsextremer Repräsentanten, allermeist Männer, und ein knappes Zehntel sehr linke Vertreter in den Reichstag eingezogen.
Die Mitte ist trotz der Zugewinne von CDU/CSU geschrumpft. SPD und Grüne gehen gerupft aus dem Nach-Ampel-Wahlkampf hervor, werden dennoch beide gebraucht für über die einfache Mehrheit hinausgehende Abstimmungen etwa zum Finanzrahmen, der militärisch – Ukraine – und innenpolitisch – Sicherheit und Infrastruktur, Bildung – dringend erweitert werden muß, um das Vertrauen der Wählenden in den nächsten vier Jahren so zu gewinnen, daß die Rechtsextremen, die Ränder allgemein wieder schrumpfen. Auch das ist Ende März durch Zweidrittelmehrheiten geschafft in Bundestag und Bundesrat, welch ersterer noch in alter Besetzung tagte und abstimmte, was auch das Bundesverfassungsgericht und durch seine Unterschrift der Bundespräsident als letztes Verfassungsorgan, das beteiligt war, bestätigt haben. So weit hat die Bundesrepublik trotz massiver Auseinandersetzungen im Bundestag wie in der Öffentlichkeit „funktioniert“, ehe der neue Bundestag mit einer eindeutig auf Krawall gebürsteten Oppositionspartei und einer fast den Stimmenanteil der SPD erreichenden Außerparlamentarischen Opposition, der altbekannten APO vor den Türen, seine Arbeit aufnimmt.
Solch allgemeine Beobachtungen gründen auch auf den letzten Wochen der Betrachtungen vor Ort: an verschiedenen Stellen: in den Schulen, in der Fußgängerzone, bei einem Konzert klassischer Musik, auf einem Flohmarkt in der Ostfriesland-Halle, bei Gesprächen im Zug, im Lehrerzimmer, im Zeitungsladen am Bahnhof, am Rande eines Zeitzeugengespräches mit Albrecht Weinberg, der wenn dieser Post erscheint, am Freitag, dem 7. März 2025, seinen 100. Geburtstag gefeiert haben wird.
Tatsächlich kreisen viele der gesammelten Beobachtungen um diesen würdigen alten Herrn, der in den letzten Jahren auch vielfach vor der Kamera Zeugnis abgelegt hat von seinem langen Leben, das nun schon 38 Jahre länger währt als das des zu Lebzeiten sehr berühmten Holocaust-Überlebenden Hans Rosenthal (1925-1987), des Show-Masters in Funk und Fernsehen, der sich aber auch im Zentralrat der Juden engagiert hatte und zu Wohltätigkeitszwecken nicht nur, aber auch auf der Nordseeinsel Föhr mit anderen Prominenten Fußball spielte. Versehen mit einem Vorwort der vielseitigen Autorin, Schauspielerin, Regisseurin Adriana Altaras, ist seine Autobiographie, ursprünglich 1980 publiziert, gerade rechtzeitig zum 100. Geburtstag neu aufgelegt worden.
Sie trägt den Titel „Zwei Leben in Deutschland. Eine jüdisch-deutsche Geschichte“. Ebenso gibt es zum 100. Geburtstag einen Spielfilm sowie eine Dokumentation zu Hans Rosenthal.
Der Spielfilm nimmt den 40. Jahrestag der Novemberpogrome von 1938 am 9. November 1978 zum Anlaß, um zu zeigen, was der Moderator alles letztlich vergeblich versuchte, um die Verlegung der für diesen Tag, einen Donnerstag, geplante Sendung seiner Quiz-Show Dalli Dalli zu erreichen (auch diese Sendung ist derzeit per Stream anzuschauen). Das war ihm wichtig, weil zeitgleich in Köln die erste staatlich ausgerichtete Gedenkfeier stattfinden sollte, an der er dann nicht teilnehmen konnte. Sein Sohn, Gert Rosenthal, erinnert sich daran, nichts von diesen Bemühungen mitbekommen zu haben, meint aber auch, sein Vater habe diese Sache in seiner Autobiographie nicht erwähnt. Das trifft auch zu, heutige Leserinnen profitieren jedoch vom Vorwort von Adriana Altaras, die genau diese Episode erwähnt. Sie schreibt, die Sendung sei aufgezeichnet worden, Rosenthal habe, unüblich für ihn, einen „schwarzen Anzug“ getragen und fünf Jahre später bei der ARD zu in der NS-Zeit verbotenen Musikstücken wie folgt abmoderiert: „Vor fünfzig Jahren fing alles an, und wir können nur hoffen, dass diese Vergangenheit keine Zukunft hat.“ (S. 9; S. 11)
Albrecht Weinberg, am 7. März 1925 in Rhauderfehn, Ostfriesland, geboren, ist damit nur gut drei Wochen älter als der Moderator, den er zu dessen großer Zeit in den 1960er bis 1980er Jahren vermutlich gar nicht gekannt hat. Denn zu der Zeit lebte und arbeitete Albrecht Weinberg in New York City.
Ihn überhaupt nach diesem sehr langen, nahezu 65 Jahre umfassenden Lebensabschnitt zu befragen, noch dazu auf Englisch, der Sprache, die er in den USA tagtäglich praktiziert hatte, ist das Ergebnis eines ersten Zeitzeugengespräches in der Ehemaligen Jüdischen Schule in Leer, welches eine Schülergruppe aus Norden am 25. September 2024 mit ihm geführt hatte. Dieses nahezu zwei Stunden umfassende Interview ist nun auf der Webseite „Frisia judaica“ unter der Rubrik „Aktuelles“ hochgeladen.
Zeitzeugengespräch mit Albrecht Weinberg (Zugriff: 23.03.2025)
Der Grund, die Gespräche mit Albrecht Weinberg einer größeren Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, ist keineswegs sein 100. Geburtstag. Nur fällt dieser in eine Zeit, da mit Albrecht Weinberg einer der letzten noch von seinen Erfahrungen sprechenden Zeitzeugen zu vielen aktuellen Fragen öffentlich Stellung bezogen hat, nicht zuletzt zum Antrag der CDU-CSU-Fraktion, der am 29. Januar 2025 mit Hilfe der Rechtsextremen im Bundestag eine knappe Mehrheit der Abgeordneten fand. Gefragt, wie er diese Abstimmung sehe, kündigte Weinberg an, sein Bundesverdienstkreuz zurückgeben zu wollen.
Wer sich schon einmal gefragt hat, wie es überhaupt zur Verleihung von solchen Ehrungen kommt, kann in dieser Zeit interessante Entdeckungen machen. Denn nur höchst selten funktioniert das wie im Falle des Pianisten Igor Levit, der 2020 im ersten Corona-Lockdown über 50 Tage lang abends Hauskonzerte per Streaming in die Welt schickte und damit viele Menschen – aber auch sich selbst, wie er in seinem Buch sagt – glücklich machte. Auf Levit war der Bundespräsident seinerzeit höchstpersönlich aufmerksam geworden. Also wurde mit Levit, als dieser die Auszeichnung erhielt, per Twitter-Post durch die Fraktionsvorsitzende der Rechtsextremen im Bundestag ganz direkt und sehr bewußt das Amt des Bundespräsidenten beschädigt – obwohl, passend zur Zielperson, der medialen Attacke tief verwurzelter Antisemitismus zugrunde lag, also auch die persönliche Attacke auf Igor Levit Ziel des Posts war.
Albrecht Weinberg tritt seit 2013 in Schulen auf, zumeist in der näheren Umgebung, eher selten auf Einladung auch an anderen Orten. Das heißt, wer diese Tätigkeit von höherer Stelle geehrt sehen will – aus welchen Gründen solche Unternehmungen auch immer gestartet werden – braucht möglichst direkten Zugang zum Bundespräsidialamt, müßte persönlich oder über weitere einflußreiche Personen antichambrieren, also im Vorzimmer warten, bis denn ein Termin da ist, um die Angelegenheit vorzustellen etc. pp. Das ist eine Lobbyistenarbeit – und der Deutsche Bundestag ist berühmt-berüchtigt für die Zahl der dort akkreditierten Lobbyisten. Diese sind meist von der Wirtschaft beauftragt. Wer sonst könnte einen Vorteil davon haben, wenn ehrenamtliches Engagement in der eigenen Region von höchster Stelle im Staat gewürdigt wird?
Ja, diejenigen, die sich um ihre Wahlbürger vor Ort kümmern, nicht nur auf Zeitungsphotos bei Veranstaltungen lächeln, sondern auch im Hintergrund dabei sind, wenn etwa Albrecht Weinberg ein Zeitzeugengespräch hat oder – wie 2016 geschehen – mit einer Gruppe aus dem Wahlkreis Unterems – aus Emsland und Ostfriesland also – nach Berlin gereist ist und auch dort mit der Abgeordneten abgelichtet wird. Leute, die in den Sozialen Medien unterwegs sind, wissen zu berichten, von jeder solchen mehr oder minder öffentlichen oder privaten Zusammenkunft gibt es ein Photo und einen zumeist kurzen Text. Bilder sind ohnehin meist wirkmächtiger als Texte. Wer da neben wem in welcher Pose sitzt, das ist wichtiger als das was dort etwa gesagt wurde. Und viele, auch ältere Erwachsene, sind zu Fans von Sozialen Medien geworden.
So werden Wahlen entschieden, wird versucht, Einfluß auf Menschen zu nehmen, die wiederum als Multiplikatoren dienen – oft genug für eine gute Sache, wie Erinnerungsarbeit und den Kampf gegen Armut und Hunger, aber auch für Arbeitsplätze, mithin den daraus entstehenden eigenen Nutzen. Nicht zufällig verhandeln diejenigen, die meist im Sinne der Arbeitgeber Lobbyarbeit leisten, im Bereich Arbeit und Soziales am Koalitionsvertrag mit.
Auf und an Wochenmärkten sind Parteistände in den Wochen vor der Wahl zu sehen gewesen, werden Luftballons, Äpfel und Kugelschreiber an Bekannte und weniger Bekannte verteilt, manche MDB sind sogar selbst da, halten sich bezogen auf Albrecht Weinbergs Rückgabe des Bundesverdienstkreuzes bedeckt – wohl wissend, was in den Wochen danach noch zu verhandeln sein wird, andere bekennen am Montag nach der Wahl, sie hätten den Rauswurf aus dem Parlament schon vorher kommen sehen – nicht zuletzt weil der Wahlkampf nur auf einen zugeschnitten worden sei – der, wie der Herr nicht sagt, was aber alle wissen, für diesen Winterwahlkampf überhaupt verantwortlich zeichnete, um nun seine politische Karriere zu beenden.
Wo keine Politiker, keine Parteien zu sehen sind, das ist etwa ein Flohmarkt am 16. Februar 2025 in der Ostfrieslandhalle Leer, letztmalig dort abgehalten – es lohne nicht mehr –, wo bereits um 10 h 30 die ersten wieder wegströmen – schwer bepackt mit Einrichtungs- und Kleidungsgegenständen, die, zu meist niedrigen Preisen, in der großen Viehmarkthalle mit leeren Zuschauerrängen ausgestellt sind. Mit Kindern unterwegs zu sein, heißt wenn nicht deren Froschperspektive anzunehmen, so doch mit deren Geschwindigkeit von staunenswertem Gegenstand zu Gegenstand und an beachtenswerten Menschen vorbei langsam sich zu bewegen und aufzunehmen, wen oder was im eigenen Alltag wir zumeist nicht wahrnehmen. Es ist ein Querschnitt durch die Bevölkerung von Ostfriesland und um zu, wie auch die Autokennzeichen belegen, den politisch Aktive wenn überhaupt heute höchst selten zu Gesicht bekommen. Eine Prognose zu stellen, wer überhaupt und wenn dann wen am Sonntag drauf wählen würde, fällt hier eindeutig schwerer als in Bereichen, wo politische Gespräche tatsächlich über trennende Gräben hinweg geführt werden: sei es in Kollegien, Kirchengemeinden, Vereinen, anderen gesellschaftlichen Gruppen wie den Abonnenten des Vereins junger Kaufleute, die seit 1950 Konzerte klassischer Musik geboten bekommen, seit den 1960er Jahren in einer Aula der Berufsbildenden Schulen Leer, die seit dem Umbau 2010 Theater an der Blinke heißt.
Mit Blick auf gleich zwei Jubiläen im Jahr 2025 und dann in der Saison 2025/2026 wird am Abend des 15. Februar ein Fenster sowohl in die Vergangenheit in der Bundesrepublik als auch in das davor liegende Dreivierteljahrhundert seit der Gründung 1876 geöffnet. Es ist noch kein „Fenster der Erinnerung“, wie es im Rahmen einer Schulseminarfacharbeit im Jahr 2018 tatsächlich künstlerisch gestaltetet und handwerklich erarbeitet wurde, vielmehr ist es ein Spalt weit offen, dieses Fenster in die Vergangenheit. Urplötzlich wirkt das über den Darbietungen der Musiker projizierte Logo des Vereins junger Kaufleute, das in einem Violinkorpus das Gründungsjahr 1876 enthält und daneben die Devise „Musik erleben“, das auch auf den Programmen abgedruckt ist, wie eine Täuschung, denn eben noch hatte die Vorsitzende gesagt, Konzerten klassischer Musik widme sich der Verein seit genau 75 Jahren. Wer nicht ganz genau Bescheid weiß, könnte dank dieser optischen Verschränkung von Text und Bild auf die Idee kommen, Musik erleben möglich zu machen, sei immer das Hauptanliegen des Vereins gewesen.
Genau genommen ist die Frage gestellt, was war der Grund für diese Umstellung: gab es 1950 keinen Grund mehr, junge Kaufleute bei ihrer Bildung behilflich zu sein? Oder lagen diesem Wechsel der Ausrichtung, der ja auch mit einem Wechsel des Vereinszwecks verbunden gewesen sein muß, was im Vereinsregister zu vermerken wäre, konkrete, womöglich gar mit der NS-Zeit verbundene Ereignisse zugrunde?
Einer der Abonnenten, Wochen später beim Kirchgang getroffen, der an jenem 15. Februar nicht anwesend war, bestätigt knapp diese Vermutung. Bei der kurzen Begegnung bestand keine Gelegenheit, das Thema zu vertiefen. Doch dieser alte Herr und andere seiner Generation hätten sicher etwas beizutragen, um den im Logo schon lange enthaltenen Widerspruch aufzulösen.
Es wäre also durchaus sehr sinnvoll, auch ganz öffentlich das Fenster in die Vergangenheit im Verlauf dieser zwei Jahre 2025/2026 weit zu öffnen, die Erinnerungen all derjenigen zu nutzen, die vom Übergang berichten können, damit die verdienstvolle Geschichte der Konzerte klassischer Musik in Leer, Ostfriesland, seit Beginn der Bundesrepublik Deutschland im richtigen Licht dargestellt werden kann.
Zu diesem Zweck ist es ebenso hilfreich, sich zwei Überlegungen Richard von Weizsäckers, des von 1984 bis 1994 als Bundespräsident den Weg zur Deutschen Einheit ebnen helfenden ehemaligen CDU-Politikers in Erinnerung zu rufen, die er anläßlich des 40. Jahrestages der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1985 in Bonn, also genau vor 40 Jahren zu Protokoll gegeben hat:
„Vierzig Jahre spielen in der Zeitspanne von Menschenleben und Völkerschicksalen eine große Rolle.
Auch hier erlauben Sie mir noch einmal einen Blick auf das Alte Testament, das für jeden Menschen unabhängig von seinem Glauben tiefe Einsichten aufbewahrt. Dort spielen vierzig Jahre eine häufig wiederkehrende, eine wesentliche Rolle.
Vierzig Jahre sollte Israel in der Wüste bleiben, bevor der neue Abschnitt in der Geschichte mit dem Einzug ins verheißene Land begann.
Vierzig Jahre waren notwendig für einen vollständigen Wechsel der damals verantwortlichen Vätergeneration.
An anderer Stelle aber (Buch der Richter) wird aufgezeichnet, wie oft die Erinnerung an erfahrene Hilfe und Rettung nur vierzig Jahre dauerte. Wenn die Erinnerung abriß, war die Ruhe zu Ende.
So bedeuten vierzig Jahre stets einen großen Einschnitt. Sie wirken sich aus im Bewußtsein der Menschen, sei es als Ende einer dunklen Zeit mit der Zuversicht auf eine neue und gute Zukunft, sei es als Gefahr des Vergessens und als Warnung vor den Folgen. Über beides lohnt es sich nachzudenken.“
Interessant ist hier zweierlei: Erstens der heute wieder sehr aktuelle Bezug auf Israel, nicht das des Alten Testaments, sondern des heutigen Israel, zweitens die inzwischen weitgehend verstummten Zeitzeugen, die allein durch ihr persönliches Sprechen dafür gesorgt hatten, daß die Erinnerung gerade in den Jahrzehnten, seitdem von Weizsäcker gesprochen hatte, nicht abreißen konnte. In Israel und unter den Juden aller Welt sind auch längst nicht alle Fäden in die Vergangenheit stets und immer im Blick der heute Lebenden. Die Unruhe, die in Israel und unter Juden herrscht, hat auch mit abgerissener Erinnerung zu tun, wie von Weizsäcker sie beschreibt.
Genau diese Erinnerungen gilt es auch an jedem einzelnen Ort, in jeder einzelnen Familien aufrecht zu erhalten. Auch dazu sprach von Weizsäcker weise Worte:
„Jeder, der die Zeit mit vollem Bewußtsein erlebt hat, frage sich heute im Stillen selbst nach seiner Verstrickung.“
Diesen Satz haben nicht genügend Menschen in Deutschland West wie Ost seinerzeit gehört, um ihn als Erinnerung an weitere Generationen gegeben zu haben. Wiederum von Weizsäcker:
„Jüngere und Ältere müssen und können sich gegenseitig helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten.
Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie läßt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“
Genau diese Lage ist exakt vierzig Jahre nach von Weizsäckers Rede wieder zu beobachten und in vielen Situationen lokal erkennbar. Manche Rede wie die zitierte ist klug und noch Jahrzehnte später Anlaß zum Nachdenken; andere Reden öffnen den Spalt in der Mauer des Schweigens zu historischen Vorgängen, lassen erkennen, daß lange Zuschüsse geflossen sind für kulturelle Projekte, weil es genügend Lobbyisten gab, allesamt Abonnenten der Konzertreihe, die auch im Kreistag Leer saßen. In den Worten des Bedauerns, dieses Geld nun nicht mehr zu erhalten, klingt plötzlich für aufmerksame Zuhörer an, was hier immer wieder hinter den Kulissen geschehen ist. Ausgerechnet an jenem Abend ist die Abgeordnete, die gern mit gleichem Prozentsatz wiedergewählt werden will, beim Konzert anwesend. Ihr Abstimmungsverhalten im Bundestag am 29. und 31. Januar ist bekannt – es war ja eine namentliche Abstimmung. Zu erklären gibt es da öffentlich nichts, es wurde damit nur dem künftigen Kanzler parteipolitisch Loyalität bekundet. Das ist jedoch ungeeignet für einen positives Echo auslösenden Wahlkampf. Ebenso wie es kaum passen würde, sich auf der Straße oder im Foyer eines Theaters politisch mit kritischen Stimmen auseinander zu setzen. Persönliche Integrität könnte daraus schon sprechen. Manche Wählerstimmen wären so vermutlich verloren gegangen, aber niemand wäre hinterher getäuscht worden über die tatsächlichen Absichten.
Vielmehr ist es bewundernswert, wie Albrecht Weinberg dem Werben dieser Dame und des Bundespräsidenten, doch sein Bundesverdienstkreuz nicht zurückzugeben, standgehalten hat. Ja, solches Verhalten ist ein Vorbild für alle: die Jungen und die Alten. Er führt jedes Gespräch, für das er die Kraft findet. Vor diesem Hintergrund, der im Konzert allzu gegenwärtig war, verblaßte das wunderbare Musizieren von Anastasia Kobekina mit dem Kammerorchester Basel für diesen Zuhörer fast vollständig.
Die Rekonstruktion der im Umfeld wahrgenommenen Ereignisse, Erlebnisse mit den dazu gehörigen Empfindungen ließ es als unmöglich erscheinen, in ein und derselben schriftlichen Mitteilung auch noch eine Besprechung der Musik und ihrer Ausführung zu integrieren.
(Eine Lobeshymne findet sich hier: Kammerorchester Basel, Anastasia Kobekina)
Auch der an dieser Stelle sich meist wie von selbst einstellende Verweis auf Oscar Wilde und sein Denken wäre jetzt nur zu erzwingen. Dabei hat er zeitlebens den Konflikt von Ethik und Ästhetik ausgehalten. Ethisch wäre es etwa schon lange vorbildhaft, wenn Konzerte der Hochkultur, die sich nur sehr selten auch an das außerhalb dieser Kultur lebende Publikum wenden, etwa durch Angebote im Freien oder an anderen, niederschwellig zugänglichen Orten, vor allem von denjenigen gefördert werden, die am meisten davon profitieren: also von den ebenfalls hoch gebildeten und bislang gut bezahlten Absolventen von Hochschulen und Universitäten, die noch immer den Großteil des Publikums stellen. Statt dessen ist das Förderprinzip wie so oft: wer viel hat, kriegt auch viel. So funktioniert die Steuergesetzgebung.
Weil das Leeraner Publikum jedoch auch sehr dankbar ist für die in Ostfriesland gebotenen musikalischen Leistungen, gelingt es dem Programmchef trotz beschränkter Mittel – weil eben auch öffentliche und private Zuschüsse zusammen nicht reichen würden, um Honorare wie in Hamburg, Köln, Berlin, München, London, Paris, New York zu zahlen – immer wieder, nicht nur alt vertraute, sondern auch ganz neue Solistinnen und Ensembles nach Leer zu locken. Das für die Jubiläumsspielzeiten angerichtete musikalische Mahl ist denen der vergangenen siebeneinhalb Jahrzehnte in Vielfalt und Qualität ebenbürtig – nicht zuletzt weil auch eine zu Recht anonym bleiben wollende Einzelperson dafür gesorgt hat, ein Berliner Cello-Ensemble erneut nach Ostfriesland zu holen.
Soll nämlich ein Angebot wie dieses, das konzentriert durch die Gezeiten-Konzerte, die von Mai bis August eine ähnliche Vielfalt verteilt über die ostfriesische Halbinsel bringen, auch weitere Jahrzehnte aufrecht erhalten werden, wird es nötig sein, mehr als bisher in die Verbreiterung der Basis musikalischer Bildung zu investieren, als das früher üblich war.
(Informationen und Konzertkarten gibt es hier. Manches ist schon jetzt ausverkauft mit Warteliste: gezeitenkonzerte.ostfriesischelandschaft.de )
Und das ist nicht nur eine private, sondern nach Erkenntnis des Problems vor allem eine gesellschaftliche und damit hochpolitische Aufgabe. Dieser stellen sich, wie immer wieder zu beobachten ist, die teils noch jungen, aber auch die nicht mehr ganzen jungen Musizierenden weit mehr als diejenigen, die die Konzertstrukturen vor Ort tragen. Es beginnt mit den stets hybrider werdenden Zusammensetzungen der Ensembles, welche ein Reflex sind auf die Lage an den Musikhochschulen. Noch ist Deutschland eine Attraktion für Musizierende aller Weltregionen, weil das Angebot an Ausbildungsstätten wie Aufführungsorten hier unvergleichlich größer und dichter ist als in vielen anderen, auch westlichen Ländern.
Sprachlich, musikalisch, technisch: überall ist Hybridität unter den Musizierenden heute angesagt. Beim Konzert am 22. März 2025 arbeiten von acht Streichern nur noch zwei mit herkömmlichen Notenmaterial, die anderen nutzen digitale Geräte. In ihrer Dokumentationsserie des WDR ist auch Anastasia Kobekina anzumerken, wie nahtlos sie zwischen den musikalischen Sprachen wie den Idiomen, die sie spricht, zu wechseln vermag. All das ist noch recht unzulänglich im Publikum gespiegelt, und dieses Publikum ist in den letzten 23 Jahren sehr viel schneller gealtert, als daß jüngere Abonnenten dazu gekommen wären. Kirchenmusiker, die heute einen Kinderchor aufbauen wollen, müssen die Kitas im Landkreis Leer abfahren, um Werbung für ihr Projekt zu machen, direkt Verantwortliche, Eltern, Kindern anzusprechen. Das ist genauso anstrengend und zeitraubend wie ein Wahlkampf. Nur ist es nicht alle vier Jahre, sondern alljährlich zu wiederholen. So ist auch die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen nicht mehr nur am Instrument oder im Ensemble zu leisten, sondern sozial in und zwischen den Einrichtungen. Hierfür bräuchte es auch mehr politische Unterstützung, mehr Engagement, damit eines Tages die Enkel und Urenkel der heutigen Konzertbesucher im Theater an der Blinke sitzen. Es genügt nicht, wenn Abonnenten im privaten Gespräch Werbung machen. Musizierende, die solche Initiativen unterstützen, gibt es viele, nimmt man die Artikel in der Neuen Musikzeitung als Maßstab, denn nur wenn genügend Menschen mit dem Interesse an Musikausübung und Musikhören nachwachsen, kann die einzigartige Musiklandschaft in Deutschland weiter bestehen. Das Gleiche gilt übrigens für die Pflege von Sprache, Literatur und bildender Kunst. Sie nur den Elternhäusern zu überlassen, die ohnehin aus der Familiengeschichte gelernt haben, die Künste an die Kinder weiter zu geben, dürfte für die Aufrechterhaltung eines demokratischen Gemeinwesens nicht ausreichen.
In diesem Sinne, es gibt viel zu tun, jede Einzelperson zählt, Engagement ist essentiell und täglich wichtig,
beste Grüße,
Jörg W. Rademacher