Blog Artikel deutsch (2): Kalender im Werden

Oscar Wilde Kalender 2020



Texte ausgewählt, geschrieben, übersetzt und herausgegeben von

Jörg W. Rademacher (Leer)



Collagenwerk von

Ulrich Hoepfner (Leipzig)

1895: Annus terribilis Wildensis:

Kurze Chronik eines angekündigten sozialen Todes: Niedergang und Sturz einer Ikone des Ästhetizismus

Vorwort

Um der 125. Wiederkehr des Jahres von Oscar Wildes Sturz 1895 zu gedenken, ist es nötig, vom bisher in dieser Kalenderserie verfolgten Kurs abzuweichen: nämlich auf die ausgetretenen Pfade der Chronologie zurückzukehren. Nur dann werden Menschen, die lange nach Wildes Tod geboren wurden, sich direkt mit seinem Zeitalter verbunden fühlen. Wenigstens war dies mein Gefühl, als ich die Hochzeitsurkunde und den Totenschein von Constance Wilde erhielt – genau, als mich die von Merlin Holland, Wildes einzigem Enkel, gescannten Dokumente per Internet erreichten. Plötzlich erhielt diese Arbeit der Kalendergestaltung für mich einen neuen Sinn. Jetzt fühle ich mich den Ereignissen von Wildes Leben ganz nahe.

Während die Chronologie jeden Kalender beherrscht, regiert sie dieses Mal auch die Wahl der Zitate, um Wildes Leben im Jahr 1895 zu repräsentieren – sein annus terribilis. Der Ausdruck heißt, daß es nicht schlimmer hätte kommen können, und manche Oscar-Wilde-Fans, deren es in allen Lebenslagen auf der Welt sehr viele gibt, mögen den Tatsachen nicht einmal 125 Jahre nach seinem Sturz ins Auge sehen. Ich kann ihnen versichern, daß es immer besser ist, in einer Lebenskrise den Tatsachen ins Auge zu sehen, als die im Keller verborgene Leiche dort zu lassen, wie es Wilde tat, bis es zu spät war.

Also enthält dieser Kalender anders als seine Vorgänger keine expliziten Kommentare von mir. Vielmehr deute ich meine Lesart der Ereignisse durch die Wahl der Zitate und der Zusammenstellung der Tatsachen an. Eines jedoch ist klar. Abgesehen von Wildes Familienangehörigen überlebte fast jede der hier genannten Personen ihn bis weit ins 20. Jahrhundert. Eine Ausnahme sind seine beiden Söhne, die er nach Anfang 1895 nie wiedersah. Viele seiner Freunde waren loyal, blieben es auch und schwiegen, als Wilde am 30. November 1900 gestorben war. Viele mögen Scham empfunden haben, mit ihm Briefe gewechselt zu haben, so daß die bloßen Tatsachen seines Lebens, soweit sie schriftlich festgehalten wurden, für den Großteil des 20. Jahrhunderts im Dunkeln blieben.

Die Form dieses Kalenders, ungewöhnlich wie sie sein mag mit Englisch als Hauptsprache gegenüber dem Deutschen im ersten und letzten Quartal, während es im zweiten und dritten Quartal mit Französisch und Italienisch gekoppelt ist, hätte von Wilde jedoch selbst im Gefängnis Wertschätzung erfahren. Die Bücher, die er sich schicken ließ, waren ja in sechs Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch, Griechisch, Italienisch und Latein. In der Tretmühle des Gefängnisses zu sein und in so viel Sprachen zu lesen, wie er je gelernt hatte, war vielleicht nicht das schlechteste Tonikum für diesen alleingelassenen und einsamen Mann in Reading Gaol. Sein Überleben, wenn auch nur gerade eben, durch Lesen und schließlich auch Schreiben mag viele spätere Häftlinge inspiriert haben, nicht zuletzt Anne Frank in ihrem Amsterdamer Versteck während des Zweiten Weltkriegs oder Bobby Sands im Hungerstreik im Long Kesh-Gefängnis, Nordirland, im Jahr 1981, dessen Gedicht «Trilogie» auf Wildes Gedicht «Die Ballade vom Reading Gaol» beruht, das in einem weiteren künftigen Kalender aufgegriffen werden wird. Zuletzt könnten wir auch daran denken, daß Wildes Bibliograph, Stuart Mason, im Jahr 1910 The Oscar Wilde Calendar. A Quotation from the Works of Oscar Wilde For Every Day in the Year herausgab, der mit dem Photo endet, das Oscar Wilde 1900 in Rom zeigt – dem letzten Photo, als er noch lebte.

Zu den zum Gedenken für diesen Kalender ausgewählten Personen und Ereignissen

Erstens werden Menschen erwähnt, die mit Oscar Wilde verbunden sind, deren viele der Öffentlichkeit verborgen blieben. Zweitens wird an irische Schriftsteller und Ereignisse wie den St. Patricks-Tag und den Bloomsday erinnert. Drittens versuchte der Herausgeber in diesem Kalender Verbindungen herzustellen zwischen irischen, deutschen, und, allgemein gesprochen, europäischen Ereignissen wie der Französischen Revolution, der Shoah, der deutschen Teilung und Wiedervereinigung, oder der Brand von Notre-Dame de Paris, die alle Nachwirkungen hatten wie Leben und Werk Oscar Wildes auf eher individueller Ebene. Schließlich werden christliche und andere Feiertage markiert, um die Vielfalt in dem einen, dem europäischen Kontinent zu markieren. Dank gilt André Ughetto (Marseille) für seine präzise formulierte Kritik und passende Empfehlungen.

Epilog:

16. Dezember 1896: Auf die Bücher bezogen, die Wilde von draußen bekommen kann, teilt er More Adey (1858-1942) mit, «sogar Ollendorff» sei «unbezahlbar: Ich finde, eine Sprache zu lernen, die man vergessen hatte, ist ein gutes mentales Tonikum: dabei ist die bloße mechanische Seite schon von Wert.» Wilde verweist auf das Handbuch German Method von Heinrich Gottfried Ollendorff (1803-1865), der die Methode, Französisch zu lernen, und dann die anderer Sprachen revolutioniert hatte. (Complete Letters, S. 672/673).

Beiträger:

Der Künstler

Ulrich Hoepfner, 1959 in Leipzig geboren, arbeitet ebendort seit 1988 als freier Grafikdesigner. Oft gebeten, Plakat, Einladung und Eintrittskarte der von Maria Eger organisierten Nürnberger Bloomsday-Feierlichkeiten vorzubereiten, ist er seit 2016 bereit, auch Oscar Wilde Zeit zu widmen.

Der Herausgeber und Übersetzer ins Deutsche und Französische

Jörg W. Rademacher, 1962 in Kamen (Westfalen) geboren, arbeitet seit 1996 als freier Herausgeber und Übersetzer. Zuerst durch James Joyce an Irland gebunden wie auch zweimal Gastredner bei den Nürnberger Bloomsday-Feierlichkeiten von 2001 und 2004, arbeitet er seit 1998 auch an Oscar Wilde. Dies ist sein vierter zweisprachiger Oscar-Wilde-Kalender seit 2014. Seit 2018 betreibt er seine eigene Oscar-Wilde-Webseite: www.oscar-wilde-blog.de



 

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